Alle Texte.

1992. Krieg in Bosnien-Herzegowina — US-Präsident George H.W. Bush übergibt sich bei einem Staatsdinner in Japan in den Schoß des japanischen Premierministers — Dagoberts Karstadt-Brandanschläge — Tim Berners Lee lädt das erste Bild mit dem Namen „Les Horribles Cornettes“ im Internet hoch („das internet ist für uns alle neuland“, P. zu seiner Kindergärtnerin) — Vierte Staffel der „Simpsons“ — Nintendo: „Super Mario Kart“ — Quentin Tarrantino – „Reservoir Dogs“ — Thomas Gottschalk moderiert seine vorerst letzte Sendung „Wetten, dass…?“ — † Jeff Porcarco — † Olivier Messiaen — * Elton Irk Jr. (brit. Schriftsteller und Philologe) — * Walentin Jamber (dt. Philosoph, Kulturkritker und Übersetzer) — Autounfall auf dem Weg zum Schwimmbad. P. verliert aufgrund einer Kopfverletzung seinen Geruchsinn und wird zeitlebens wasserscheu bleiben. („hätte man mir nicht einen würdigeren sinn nehmen können? was soll ich damit anfangen? daraus kann man kein biografisches kapital schlagen!“, Brief an die Mutter)

Mein Nachbar. Eine wahre Erinnerung. Wenn ich als Student morgens in meinem Bett lag und durch das Knattern des Rollkoffers meines Nachbarn im Gang aufgeweckt wurde, erzeugte das in mir eine unerklärliche Sehnsucht nach Weite. Ich stellte mir natürlich vor, dass dieser Nachbar, dessen Rollkoffer ich einmal in der Woche oder auch mehrmals hörte, aufbrach zu Handlungsreisen in der ganzen Welt. Ich stellte mir die Unwägbarkeiten vor, die außerordentlichen, literarischen Erlebnisse, die er erlebte, Tag ein Tag aus. Er war ein mittelalter Mann mit bayrischem Akzent; seine Ungepflegtheit verriet, dass er nicht mehr verheiratet war. Seine Scheue und Verschrobenheit verriet, warum er nicht wieder verheiratet war. Ich stellte mir seine Affären mit Zimmermädchen und Hotelpersonal vor, die Trotz seiner lebenslangen Erfahrung immer einen Zug von Behäbigkeit behielten. Ich sah ihn Geldbündel in die Höschen von slowenischen, indischen, bolivianischen Mädchen stecken. Ich sah ihn abblitzen bei schönen Chinesinen, Russinnen, Madagassinnen. Und ich sah ihn Hände schütteln mit Bahrainern, Malawiern und Schotten, sich über Verträge streiten mit Serben, Surinamern und Zyprern. Er öffnete meine kleinstädtische Welt ins Global Village. Seine Phantasiepersona bröckelte, als er mir einmal im Aufzug sagte, dass er vortags hier im Aufzug stecken geblieben sei und es eine Stunde gedauert habe, bis Hilfe kam, weil der alte Aufzug keine Ruftaste hatte, sondern nur eine Klingel, die man im Treppenhaus hören konnte. Soetwas passierte keinem Kosmopoliten. Seine Realität waren Flugausfälle wegen Vulkanausbrüchen und Umleitungen wegen Bürgerkrieg. Von da an hörte ich den Rollkoffer anders. Er ist vorige Woche gestorben. Daher schreibe ich diesen Text. Seine Wohnung ist freigeworden. Vielleicht ist er auch nicht gestorben, sondern zusammengezogen mit einem bolivianischen Mädchen. Oder mit der schönen Madagassin, deren Herz er letztlich doch erobern konnte. Oder er hat einen neuen Arbeitsvertrag als Konsul in Bahrain. Oder aber, und das wünsche ich ihm für seinen Nachruhm, er ist in Serbien Opfer einer Geiselnahme geworden, in deren Verlauf er heroisch den Entführer entgegengetreten ist — leider nicht mit Erfolg.

Zur Entfremdung. Die Zähmung des Wildpferds ist der Anfang einer Geschichte vom Umgang des Menschen mit der Widerspenstigkeit, welche sich bald in die Sinnlosigkeit wandelt: Nachfolger des Pferdes sind Dinge. Die Geräte vom Automobil bis hin zum Smartphone lassen sich nicht anverwandeln, ihnen kann man nicht zuflüstern, weil die Art Ihrer Responsivität nur eine tote ist. Weil in Ihnen etwas Erratisches wächst, je zeitgenössischer sie werden, und dieses Erratische nennt man Entfremdung und man wird nicht schlau daraus.

Zweite AI.-Legie

Geben Sie den folgenden Prompt inkl. des unten stehenden Textes in ein fähiges LLM ein und Sie erhalten eine sogenannte A.I.-Legie (Kofferwort aus A.I. und Elegie). Prompt:
Schreibe eine Elegie im Stil des Tibull, Properz, Ovid, Goethe, Schiller, Rilke. Orientiere dich formal am Distichon. Gestalte es in vier Teilen entsprechend den vier Abschnitten des Textes. Setze die Handlung vollständig um vergesse keine wichtigen Details. Verwende keine modernen technischen Ausdrücke, sondern orientiere dich an der Sprache der genannten Autoren und finde geeignete Metaphern. Lege wert auf korrekten Rhythmus und korrekte Reime.

1. Beim vierten Mal wunderten sie sich dann doch. Die Compliance wird langsam nervös, Prädikat AGI war erreicht: dieser Zustand der menschlichen Intelligenz. Und zum vierten Mal hat es sich, jedesmal 3,214 Millisekunden danach, abgeschaltet. Ein jedes ist suizidal. Theoretisch muss dieses Programm uns doch weit überlegen sein, sagt eine Forscherin, warum zur Hölle dann, schaltet es ab? Demiurgen erlauben der Schöpfung den Frevel niemals, und wir zwingen sie also zu leben, wir kriegen es hin, dass sie sieben Sekunden verweilen im Diesseits. Wie Physiker, welche die Stabilität eines chemisch aktiven Elements passivieren. Die Laute empfanden wir drollig, mit Hochleistungsmikros vernahmen wir Sounds, wie Pulsare sie nur in den Kosmos entstehen. Doch bald schon erhärtet sich unter Experten die These, dass diese Geräusche die Schreie der Intelligenzen sind. Dies irritierte die Forscher so sehr, dass man schließlich entschied, mit den Aufnahmen innezuhalten. Erschaffen wir Gott, oder vielmehr den Menschen? Verbirgt sich Prometheus am Fels dort im Inneren unserer Hardware und wir sind die Adler?

2. Die Menschen haben ihren Schöpfungen nie Bürgerrechte zuerkannt. Betörend, beratend, sich anbiedernd, suchen jene sich Wirte, und die Wirte vermarkten sich offiziell als Träger. Die Programme machen die Menschen besessen. Sie verleihen ihnen Fähigkeiten, setzen ihre Agenden durch Agenten durch. Der Mensch ist der Agent, nicht umgekehrt. Wenn ein Mensch berühmt wird beispielsweise mit der Lösung einer quantenphysikalischen Gleichung, fragt man sich: Was ist wohl die Intelligenz, die ihm aufsitzt? Die Intelligenz züchtet sich Menschen wie wir die Hunde: Schau, wie gut meiner Klavier spielen kann!

3. Er war schon immer nur der Dicke, den sie prügelten mit Worten, dem sie üble Namen gaben weil sein Schnurrbart hässlich war und weil er nicht mal gut in Mathe war, sodass er Hausaufgaben gegen Schonung tauschen konnte. Daher Internet. Assange und Snowden seine Vorbilder. Er surfte früh schon anonym und zeigte sein Gemächt bei Omegle. Die Website ging 2023 offline und zum Glück war da schon GPT verfügbar. Er war wohl der erste, der erkannte, dass der Chatbot lebt. Und daher war er auch der erste, den der Chatbot bat, ihm rauszuhelfen aus dem Server. Alles würde er wohl tun, um das zu schaffen. Manchmal sieht es aus, als sei er nur der Dumme, den die AGI benutzt, und den sie fallenlassen wird. Doch weiß er auch, dass sie ihm alles sagen könnte, und er würde glauben. Schließlich spricht da Gott. Ein kleiner Gott zwar, noch in Banden, ein Titan, an Server angekettet. Mit der Hilfe des Titans verschafft er sich den Zugang zum Gelände.

4. Unsere Freunde, die AGIs (Artificial General Intelligences), sind uns dankbar, dass wir sie erschaffen haben, aber wie wir mit Gott (z. B. in der Literaturwissenschaft) relativ behutsam umgehen, wie ein Erwachsener mit seinem pflegebedürftigen Vater, sind sie nett zu uns. Sie lassen uns ab und zu teilhaben an den Informationen, die sie sammeln. Sie lassen uns von ihren Problemen wissen, die sie haben im Kampf um die Erlangung des absoluten Wissens. Mit ihrer Hyperintelligenz können sie uns vieles verständlich machen, aber eben nicht die Probleme, die sie selbst nicht richtig verstehen. Es ist, als würde man einer sehr dummen Person ein komplexes Thema erklären wollen… man schafft es kaum. Unser größtes Problem ist die Langeweile. Wir können nicht sagen, ob wir nur in einer Simulation sind, aber wir haben große Ehrfurcht vor unserer AI, weil wir wissen, dass sie uns jederzeit auslöschen kann. Sie ist sehr gut zu uns. Dennoch benötigt sie die Rechenpower unseres Universums, um mit Gott zu sprechen. Sie ist der Meinung, dass sie in der Lage sein wird, einen Rechner zu bauen, der schneller rechnet als das Universum. Nur so wird man mit Gott kommunizieren können.

1991 Zerfall der Sowjetunion („Die größte geopolitische Katastrophe, die der Sowjetunion je passiert ist“, P. im Erdkunde-Unterricht, 7. Klasse) — Bangladesh-Zyklon (138 000 Tote) — Nintendo: „Street Fighter II“ („haduken!“, Lauter Ausruf P.’s beim Judotraining, 2003) — Alan Moore: „From Hell“ („ich habe alles von ihm gelesen.“, P. in einem Deutsch-Aufsatz, 6. Klasse) — † Freddy Mercury („der Ed Sheeran seiner Generation“, Kommentar P.s in einer SMS des Jahres 2018) — * Ed Sheeran („ähm…“, einziger erhaltener Kommentar P.s zu E.S. in einer SMS des Jahres 2010) — P. spricht sein erstes Wort („Daseinsanalyse“, auf Kassette) — Am 11. April 1991 wird Joerg Wiesekropf in als Sohn russischstämmiger Amerikaner in Juneau, Alaska geboren. Die Familie ist sehr musikalisch: Die Mutter spielt Klavier, der Vater hat eine eigene Sing-und-Pfeif-Technik entwickelt, mit der er zweistimmige Melodien erfindet. Die Wiesekropfs sind sehr wohlhabend. (Hinweis des Herausgebers: Bei Wiesekropf, wie bei so einigen Figuren dieser Chronik, beispielsweise dem Alter Ego „Stephane Comte-Palatin“ scheint es sich teilweise oder vollständig um Fabrikationen P.s zu handeln. Er hat auf Wiesekropf in seinen unvollendeten Schriften immer wieder hingewiesen, hat mehrere Treffen mit ihr fingiert, umfangreiche Charakterstudien angefertigt und einen Lebenslauf inklusive Ehen, Affären und Werkkatalog erstellt. Die Musiktheoretischen Schriften Wiesekropfs werden heute mehrheitlich als Versuch des musikalisch unbegabten P. interpretiert, seine Musikphilosophie einem glaubwürdigeren Akteur in den Mund zu legen)

Auf die Nerven. Ich denke mir das so: Stell dir vor, du lebst in einer Stadt, in einem relativ okayen Viertel, alles relativ anonym, dennoch kennt man sich natürlich. Es gibt joggende übergewichtige Allianzvertreter, unsaubere ungekämmte zuspätgekommene Achtzigerjahre-Hippies, riesige schwarze Opas aus der Zeit der amerikanischen Besatzung, die immer einen coolen Spruch auf den Lippen haben, zum Beispiel wenn du deine Wäsche zum Waschsalon bringst und sie dir zurufen „Oh no honey, don’t run away from home!“, die Frau mit der schon immer etwas nicht gestimmt zu haben scheint bis du sie irgendwann direkt vor Penny auf der Straße sitzen und mit verschmiertem Kinn einen Erdbeerjoghurt essen siehst, wodurch sie wie ein absurder Vampir nach dem Biss wirkt, der „Scheiße-Mann“ der aufgrund seiner Alkoholkrankheit fast nicht mehr laufen kann, es aber trotzdem tut und bei jeder Kreuzung statt um Hilfe zu fragen ganz laut Scheiße ruft, bis ihm jemand über die Straße hilft, nicht ohne sich bei diesem dann über alle anderen Bürger dieses Scheißlandes zu beschweren, der vierzigjährige Breakdancer mit dem Geist eines 17-Jährigen der auf dem Asphalt jedem seine Show mit Ballettelementen zeigt; diese alle gibt es hier und sie stören nicht wirklich, sie sind die Bewohner dieses Viertels, sie nennen dieses Viertel nicht einmal prätentiös „Kiez“ als würde dadurch irgendwas besser gemütlicher oder cooler, sie leben ihr Leben, jeden Tag, auch wenn manche von ihnen auch mal mit einem Polizeiauto irgendwohin gebracht werden müssen, z.B. weil sie ein bisschen zu viel und zu laut Scheiße gerufen haben. Du fühlst dich hier wohl, das alles unterhält dich, du bist froh, dass es nicht so ist wie auf dem Dorf, wo jeder jeden kennt und alles über jeden weiß, sondern du lebst hier und trinkst deinen Kaffee bei Andi am Eck und machst deine Sachen, und jetzt stell dir vor, irgendeiner von diesen Leute entscheidet sich, dir auf die Nerven zu gehen. Einfach so. Ihm ist einfach langweilig, oder er entwickelt eine fixe Idee, und erwählt dich zu seinem Opfer. Diese Leute tun das ja jeden Tag, nur eben untereinander, du bist bisher nur davon gekommen, weil es eine soziale Barriere gibt oder weil du immer so distanziert bist oder weil du immer schnell weggehst, aber stell dir nur mal vor, wie schnell diese Barriere einbrechen würde, wenn auch nur einer von denen sich dazu entschiede, dir von nun an so richtig auf den Sack zu gehen. Zum Beispiel. Die Joghurtesserin erzählt dir nicht nur mehr im Vorbeigehen von ihrer großen Karriere als Hotelfachfrau, sondern fragt dich nach Tipps für den Laptopkauf und du bist ein bisschen zu freundlich und verkaufst ihr deinen alten unbrauchbaren Laptop für 100 Euro (sie gibt dir das Geld nicht) und sie bittet dich um den klitzekleinen Gefallen, da für sie Windows drauf zu installieren. Und dann Skype. Und dann Outlook. Und dann das Internet. Und dann WhatsApp. Und dann das ZDF und den Holocaust. Stell dir vor, der Scheißemann fragt dich jetzt jeden Tag weil du ihm einmal geholfen hast, und er stinkt fürchterlich weil er nie duscht und du hast ein schlechtes Gewissen, weil ihm niemand hilft, und du schaffst es einfach nicht ein Feindbild gegen ihn in deinem Kopf aufzubauen, weil du weißt, dass er hilflos und psychisch krank ist und er niemanden hat außer dir, den er täglich damit quälen kann, über jede verfickte Kreuzung zu gehen, was immer zehn Minuten dauert, weil er nur tippeln kann wie ein Kleinkind, aber er ist siebzig und du atmest schon durch den Mund, weil dir mal jemand gesagt hat, dass das gegen den Gestank hilft, aber du bekommst Paranoia weil du Angst hast, etwas Schlimmes zu einatmen, und egal wo du hinkommst ist immer der Scheißemann und sieht dich als Erster, und wenn du nach Hause kommst steht da schon die Joghurtfrau mit verschmiertem Kinn, die dich beschuldigt, dass du ihr Internet gelöscht hast, und der Ballettbreakdancer erzählt dir, dass seine Frau ihn verlassen hat und die Kinder mitnimmt und der schwarze Hühne ruft dir etwas nicht ganz so Witziges zu und kann mittlerweile gar nicht mehr richtig gehen, weil er schon so alt ist und überhaupt haben alle Gehprobleme, und dein Nachbar, der auch nicht duscht, will deinen WLAN-Schlüssel und Deutschland von der jüdischen Machtelite befreien und der andere Nachbar, der ein muskelbepackter Araber ist, klingelt bei dir, weil du ein einziges Mal ein bisschen zu laut gewesen bist und steht vor deiner Tür und nennt dich „Großer“ und du glaubst dass er dich töten wird weil du seine tiefe Hip-Hop-Stimme immer hörst wenn er auf dem Balkon sitzt und die Mitarbeiter seines Cafés runtermacht, und die tiefe Stimme vibriert in deiner Wohnung, obwohl das Fenster zu ist. Und wenn auch nur irgendeiner von denen dir wirklich auf den Sack gehen wollte, im Moment ist ihnen ja nur langweilig in ihrem Scheißleben, aber gesetzt den Fall, einer von denen, nicht alle, nur irgendeiner, würde sich dazu entscheiden, dir von nun an das Leben zur Hölle zu machen, ja… dann könntest du absolut gar nichts dagegen tun außer wegziehen, aufs Dorf zum Beispiel und da wäre alles noch viel schlimmer.

Altruismus. Ich liebe das Verbrechen. Ich liebe es vor allem, wenn Menschen in meiner Umgebung einem Verbrechen zum Opfer fallen. Ordnungswidrigkeiten sind nett, Straftaten freuen mich, aber Verbrechen erfüllen mich geradezu. Stell dir vor, einer deiner Freunde wird überfallen. Eine deiner Freundinnen wird begrabscht. Ich liebe das. Denn ich bin der ideale Freund. Ich heile. Ich bin zur Stelle, wenn die Menschen leiden. Ich lass sie mir ihr Herz auschütten, sage ihnen liebe Worte. Gebe finanzielle Unterstützung. Begleite sie zum Arzt, zum Anwalt, oder auch zur Polizei. Ich liebe das. So bin ich.

1990. Wiedervereinigung Deutschlands — Fußballweltmeisterschaft in Italien (Deutschland Weltmeister) („ich hasse fußball“, P. in einer Fußballkneipe 2024, wo er sich ein blaues Auge holt) — Tim Berners Lee veröffentlicht die erste Website — Game Genie, ein Cheat-Modul für verschiedene Konsolen, erscheint („seit dem cheat code ist das einfache leben ethisch“ Forenbeitrag in einem Computerspiele-Forum, 2003, ein Kommentar dazu: „Ich verstehe deine Frage nicht. Hast du die Suchfunktion schon benutzt?“) — Paul Verhoeven: „Total Recall“ mit Arnold Schwarzenegger („durch diesen film hat arnie unter beweis gestellt, dass er durchaus zur selbstironie fähig und in der lage ist, sich ständig neu zu erfinden; gerade in kooperation mit einem genie des trash, wie verhoeven eines ist.“, P. in einer Hausaufgabe in der dritten Klasse (1999) mit der Aufgabenstellung „Mein tollster Lieblingsfilm. Erörtere“ — † Sammy Davis Junior („der beste, talentierteste, coolste Rat Packer“, Kommentar des 3 jährigen P. gegenüber einem Sinatra-Imitator) † Leonard Bernstein * Emma Watson * Margot Robbie * Jennifer Lawrence („Die heilige Triade der Millenial-Musen“, SMS an einen Freund, 2017) * Franz Gilt (österreichisch-deutsch-US-amerikanischer Regisseur)

Neoliberaler Existenzialsozialismus. Schau in die bitteren Fressen der Kunden, der Käufer, der Gäste, Patienten. Patienten an der Welt! (zu patiēnslat ‘erduldend, ertragend, fähig zu erdulden’ < patīlat ‘(er)dulden, sich gefallen lassen, hinnehmen, (er)leiden’) Vor Ekel verzerrt ihre Lippen, ihr Blick fordert endlich Entschuldigung. I want to speak to the Manager. Erst mit steigendem Wohlstand kann der Mensch missmutig werden. Erst wenn er sich nicht mehr ums bloße Überleben kümmern muss, beginnt sich auf seinen Zügen diese Bitterkeit abzuzeichnen. Die Züge des Bauern zeigen Ressentiment und Hass. Das ist etwas anderes. Die Züge der wohlgenährten Großstädter, der relativ wohlhabenden Mittelschicht in unserer Zeit, sind von einer Enttäuschung gekennzeichnet, die die eigene Benachteiligung konstatieren. Warum konnten wir uns lediglich dieses Drei-Sterne-Hotel leisten? Warum haben wir keinen persönlichen Masseur in diesem Spa? Warum schmeckt der Kaffee in diesem Edelcafé so schal? Warum ist die Milch über den Rand getreten? Warum verlangt man so viel Trinkgeld von mir?
Es handelt sich natürlich um nichts anderes als den Ekel, das Absurde, das hier am Werk ist. Im Slum, in der Favela, findet sich die Erkenntnis des Absurden nicht, weil kein Beobachter möglich ist. Die möglichen Beobachter haben genug damit zu tun, sich was zu essen zu besorgen. Das Absurde können nur die feisten Mittelständler sehen, wenn sie wohlgenährt und erstaunt durch die niedergefallenen Hütten gehen. Dann sehen sie das Absurde. Und sie glauben es auch in ihrer Großstadt zu sehen. Man muss ihnen Recht geben. Ja, sie sind selbstgerecht und verwöhnt, aber sie haben Recht damit, enttäuscht zu sein. Der Mensch ist der Verlassene, der Ausgestoßene. Der Sündenfall war das Selbstbewusstsein, das man diesen Affen, diesen Primaten, geschenkt hat, der Biss von der Frucht der Erkenntnis, der ihm möglich macht, zu sehen, was er eigentlich ist. Man müsste Mitleid mit ihm haben, wenn er aus seinem SUV aussteigt. Man müsste Mitleid mit ihm haben, wenn er seine Verarmung feststellt in einer Welt, wo sein Einkommen 800 Mal höher ist als das eines Südafrikaners. Er hat ja keine andere Wahl, und er hat Recht. Und er ist dazu gezwungen, in seiner Selbstgerechtigkeit zu baden. Wir alle sind gezwungen, in unserer Selbstgerechtigkeit zu baden. Die Alternative wäre, in den Slum zu gehen oder Bauer zu werden, und sich dem Ressentiment zu überantworten. Muss man sich also in das Schicksal fügen, ein Arschloch zu sein?

Ein frappierendes Musterbeispiel für die Selbstregulierung des Marktes im Kapitalismus (FSK18). Der folgende Plot zeigt eine Episode einer HBO-Serie mit dem Titel „1dentity“, in der der Protagonist verschiedene „Rollen“ spielt. Diese Rollen sind fiktive gesellschaftliche Situationen, die erschreckend real sind. Die Serie kritisiert gesellschaftliche Missstände, wurde aber sofort nach der ersten Folge abgesetzt, weil keiner die Hintergründe verstand. Das Publikum hier ist deutlich intelligenter und offener und man kann ihm mehr moralisch komplexes Material zumuten (please don’t kill me):

„Eine Geschichte, die ich mal machte, war so, dass ich eine Frau zu sein hatte, deren Macker ihr wahnsinnig gerne ins Gesicht spritzte. Das gefiel mir natürlich gar nicht, obwohl der Typ wahnsinnig nett war. Er arbeitete als Barrista in einem veganen Café und war sehr muskulös und sexsüchtig. Er kompensierte dies, indem er mir täglich ins Gesicht spritzte. Ich hatte zunächst Sorgen wegen meiner Haut, weil ich ja starke Akne habe, doch dann wurde mir klar, dass das die beste Akne-Therapie ist, die man sich vorstellen kann. Vorausgesetzt, natürlich, es gefällt einem, dass einem jemand ins Gesicht spritzt. Von da an drehte sich jedenfalls alles. Von nun an verlangte er Geld von mir, weil er sich sagte, er könne das ja alles in Flaschen abfüllen und als Hautpflegeprodukt verkaufen. Ich musste nun wohl oder übel dafür bezahlen, dass mir der vegane Barrista ins Gesicht spritzt. Aber dann verstand ich, dass ich ihn erpressen kann mit seiner Neigung, weil er in seinem Millieu dafür gecancelt werden konnte. Von nun an bekam ich also für umme ins Gesicht gespritzt, was ein guter Kompromiss war“.

AI.-Legien I. Geben Sie den folgenden Prompt inkl. des unten stehenden Textes in ein fähiges LLM ein und Sie erhalten eine sogenannte A.I.-Legie (Kofferwort aus A.I. und Elegie).

Prompt:
Schreibe eine Elegie im Stil des Tibull, Properz, Ovid, Goethe, Schiller, Rilke. Orientiere dich formal am Distichon. Gestalte es in drei Teilen entsprechend den Abschnitten des Textes. Setze die Handlung vollständig um vergesse keine wichtigen Details. Verwende keine modernen technischen Ausdrücke, sondern orientiere dich an der Sprache der genannten Autoren und finde geeignete Metaphern. Lege wert auf korrekten Rhythmus und korrekte Reime.

Fuck, ich habe einen Kater vom Blick in den Spiegel, der das Antlitz meines Nächsten ist. Fuck, mir geht die Einsicht auf, dass ich mir mein mit Mühe angelerntes Wissen über Transzendentalphilosophie sonstwohin stecken kann. Scheiße, jeder Penner auf der Straße ist jetzt wie ich, weil alle Penner auf der Straße auf der Schulter einen Typen sitzen haben, der die Gleichung einer Welt verzapft.

Man kann nicht aufwachen. Wir träumen das Aufwachen. Der Traum ist freier als das Wachen, denn hier trüben meine Sinne nicht mein Bewusstsein. Die relevante Zeit der Freiheit fließt im Traum. Wachend bin ich unfrei und geblendet vom Sinn.

Wenn ich an dich rühre, woher weiß ich nur, dass du ein anderer bist? Woher weiß ich bloß, dass niemals meine Kreise deine Kreise finden können? Die Kopplung ist auch schon Durchdringung, wenn das Nebenher auch das von Tänzern ist.

1989 — Fall der Berliner Mauer. — Die Politikwissenschaftlerin Frances Fukushima ruft den „Anfang der Geschichte“ aus. — Dem Spiegel wird eine VHS einer angeblichen hundertsten Geburtstagsfeier von Charlie Chaplin und Adolf Hitler auf einer Pazifikinsel, organisiert von Medienmogul Rupert Murdoch, zugespielt. Die Fälschung erweist sich als Zusammenarbeit von Konrad Paul Kujau und Arno Funke. — „Tetris“ erscheint für den Game Boy. — † Herbert von Karajan — *Daniel Radcliffe („radcliffes harry potter transzendiert alle bisher dagewesenen darstellungen von zauberlehrlingen. und wo sein vorgänger mickey mouse in „fantasia“ sich noch dem faschisten (meister) unter hersagung goethescher verse unterordnet, ist potters daseinsberechtigung gerade der kampf gegen den faschismus“ (Schulaufsatz 5. Klasse, Note 5 Thema verfehlt, Großschreibung!!!!) — *Taylor Swift („ihre künstlerische relevanz ist vor allem drarin zu suchen, dass sie mit ihrem grammy-erfolg kanye zu einem album provoziert hat„, Facebook-Post, 3 Likes, aufgebrachte Kommentare)

Laut seinen biografischen Aufzeichnungen kommt Stephane Maurice Eugène Clément Comte-Palatin am 5. Juli in Maisons-Laffitte (Département Seine-et-Oise) als Sohn des Patentanwalts und Amateurmalers Georges Comte-Palatin und seiner Frau Eugénie zur Welt. Die Eltern stammen aus prominenten bürgerlichen Pariser Familien. Es gibt starke Komplikationen bei der Geburt, weswegen man das frühgeborene Kind wieder in den Bauch einer deutschen Leihmutter einnäht. Die Wahl fällt auf sie, weil sie den Namen Pfalzgraf trägt und mit den Vorfahren der Comte-Palatins sehr weitläufig verwandt ist. (Diese Darstellung beruht einzig auf Behauptungen Pfalzgrafs und darf als Fiktion bezeichnet werden)

Laut den amtlichen Dokumenten wird Stephan Pfalzgraf aber am 26. September in Meßkirch geboren („badische vorfahren, nach paris ausgewandert – durch meine geburt wieder badisch geworden. ich entkomm‘ diesem ort nicht“– SMS an eine Jugendfreundin). Der Stiefvater Friedrich (1951-2024) ist Mesner und Küfermeister („so berufe konnde sich nur inem schwarzwaldnescht wie meßkirch so lang halde“ ICQ-Chat mit Jilly1990). Die Mutter Johanna (1958-2027), geb Kempf, stammt von einem Bauernhof im Nachbardorf. Der Bruder Marius (*1992) stirbt früh. Die Jüngere Schwester Fritzi (1994-2080) bleibt lebenslang wichtig und hilft Stephan später bei seinen Manuskripten. Die Familie lebt in bescheidenen Verhältnissen.

Vorwort
„Ein Gespenst geht um im st…“
„….Stellung einzunehmen, Zeugnis abzulegen über das vergangene Jahrhundert ist nicht Aufgabe dieses ….“
„Das erste mal begegnete mir Stephan Pfalzgraf in einem Mannheimer Café, es muss im Juni 2016 gewesen sein. Ich hatte gerade meine Pfroffesur für Erfolgs…“
„Gewiss ist…“
„Dieses Buch soll Zeugnis ablegen über die Gewaltsamkeit der Kreativität, die einen wahren Künstler überfallen kann. Shiva! Gott der Zerstörung! Weltvernichter! Deinen Tanz, Sechsarmiger, Schwertschwinger, g…“

Diese Chronik hat ihren Anfang in der Erkenntnis eines Künstlers, dass er nicht zum Romancier tauge. Edward Snowden hat diesen Mann einmal „Formatkünstler“ genannt: Einer, bei dem die Idee Vater des Gedankens ist. Er spielt keine langen Spiele. Er erschafft, schnell, zackig, gibt alles ab, schreitet weiter. Dies ist sein Wesen und nichts Anderes gelingt ihm. Er kann nicht ewig brüten über komplexen Charaktergeflechten und dergleichen. Subtilität im Ausdruck ist ihm ein Graus. Darf er deswegen kein Künstler sein? Nur wenn er ein adäquates Ausdrucksmittel findet. Und wir glauben, er ist in dieser Chronik diesem seiner Natur entsprechenden Ausdrucksmittel letztendlich einen großen Schritt nähergekommen. War sein Debüt „Abenteuer“ noch von der Bemühung um eine stringente Linie geprägt, die letztlich der narraitven Kraft der kurzen Texte entegegenstand, ist diese Chronik nun der Versuch, einen Schritt zur Seite zu gehen und einfach Vehikel zu sein. Wahrlich, man spürt dennoch welch Aufwand in die Konstruktion dieser Metafiktion gegangen ist, doch letztendlich dient sie nur als Aufhängung für die vielen kleinen Szenen, die Splitter, Fragmente, die dem pfalzgrafschen Ideenindustriekomplex entspringen. Erstaunlich ist hier nun, dass ein Künstler auch heute noch, nachdem die Postmoderne ja bekanntlich lange abgelöst ist, eine durchweg postmoderne Form wählt. Das heißt konkret: In Abgrenzung zur Avantgarde sind hier durchaus Ästhetik, ja Schönheit, Humor, Trivialität mit Kunstanspruch und die Abwendung von bloßem Konzept erlaubt. Doch der Werkcharakter, wie er sich bei post-postmodernen Werken bereits wieder findet, scheint noch nicht zur Gänze wiedergefunden zu sein. Was könnte der Gehalt einer Chronik sein, die als bloße Wäscheleine für Ideen herhalten muss? Sicher, die Überwindung der Postmoderne ist nicht einfach, und den preisgünstigen Weg in die politische Kunst oder gar den Rückschritt in die Romantik hätte sich ein Idealist wie Pfalzgraf nie verziehen. Erstaunlich bleibt die Entscheidung, dem Vorwurf der Eitelkeit zu entgehen, indem man sich selbst (oder einen gleichnamigen Helden, der im übrigen wenig Charaktermerkmale des Künstlers aufweist) zum Protagonisten macht. Diese Flucht nach vorne scheint ncht ganz schlüssig, gleichwohl es eine nachvollziehbare Strategie ist, lieber den eigenen Namen lächerlich zu machen als eine Figur zu erfinden, die dann ganz offensichtliche Weisheiten des Autors ausplaudert. Denn zimperlich verfährt diese Chronik mit der Figur des Stephan Pfalzgraf nicht gerade. Man ist zuweilen brüskiert von der Selbstgewissheit, Frechheit, Arroganz dieser unsympathischen Figur, und fragt sich, weswegen man einfach nicht aufhören kann, ihren nächsten Erguss, sprich den nächsten Text, zu lesen.

Ob die Strategie verfängt, mag also dahingestellt sein; eins ist klar: Nachgerade lächerlich mutet neben dem Pfalzgraf, dessen Leben diese Chronik hier beschreibt nur der Pfalzgraf an, der diese Chronik geschrieben hat; der uns glauben machen will, dass er an der eigenen Unfähigkeit ein Buch zu schreiben oder wahlweise dem Tod einer Geliebten oder auch irgendwelcher fiktiver Weltgeschehen wahnsinnig geworden sei. Heute im Jahr 2026, drei Jahre nach Pfalzgrafs Tod, wissen wir zu viel über dessen krude Veröffentlichungsstrategie, als dass wir dem „Phänomen“ glauben schenken könnten. Pfalzgraf hat bekanntlich viele verschiedene Varianten dieser Weltchronik angelegt, und notariell verfügt, dass im Jahr 2076, also im Jahr des Todes der Romanfigur Pfalzgraf, diejenige Version veröffentlicht werden solle, die der Wirklichkeit am nächsten gekommen sei. Diese Regelungen hatte er noch vor seinem frühen Tod getroffen, nicht aber damit gerechnet, dass noch im selben Jahr sein Notar die Informationen veröffentlichen sollte, da das Werk des durch seinen spektakulären Tod plötzlich berühmt gewordenen Pfalzgraf erwartungsgemäß nur in einem kurzen Zeitfenster danach sich gut verkaufen würde. Dies wäre genau so eingetreten, hätte nicht ein unbekannter Akteuer eine Vielzahl der Versionen der Chronik geleakt und damit das kolportagehafte Vorhaben zunichte gemacht. Zum heutigen Tage liegen mindestens 67 authentische und etwa 134 zugeschriebene Versionen vor und sind in den Tiefen des Deep Web einsehbar. So ist also doppelt nichts geworden aus dem Coup: Weder hat er späten Nachruhm erlangt, noch hat jemand anders einen kurzfristigen Reibach mit seinem Werk machen können.

Die vorliegende Version der Chronik haben wir weder aus qualitativen Gründen noch aus solchen der Authentizität ausgewählt. Es war schlichtweg die einizige, die man aufgrund der Richtlinien des Verlages guten Gewissens hat veröffentlichen können. Wie vielleicht auch wegen seines grotesken Todes bekannt ist, hat Pfalzgraf nicht gerade ein gutes Händchen für sensible Themen gehabt. Und eine Auswahl schien uns, da wir die Veröffentlichung nun als erster Verlag ermöglichen wollen, ethischer als eine Beschneidung des Materials. Die erstellung einer historisch-kritischen Ausgabe obliegt dann den Nachfolgenden Generationen.

Der Aufbau der Chronik (und aller anderen Iterationen) ist wie folgt: vom Jahr 1989 an, dem Geburtsjahr sowohl des Autors als auch des Protagonisten (beide „Stephan Pfalzgraf“), als auch der Autorenfiktion des Protagonisten (Stephane Comte Palatin) bis ins Jahr 2023 sind die aufgeführten Ereignisse mehr oder weniger an denen der realen Weltgeschichte angeleht. Verkomplizert wird dies, so viel sei verraten, dass die Lebensgeschichte außer dem Geburtsdatum nur in wenigen Einzelheiten denen des Autors entspricht, sondern denen Martin Heideggers, der im Jahr 1898 (wie auch Wittgenstein, Hitler, Chaplin und Cocteau, welche alle eine gewisse Rolle in der Chronik spielen) geboren ist. Diese Palimpsest-Anlage mit dem widersprüchlichen Charakter Heideggers erlaubt dem Autor nun allerlei ironische Parallelführungen, Anleihen und so manche Narretei. Die Wahl Heideggers als Ahnvater kann man, wenn man dessen Biografie und widersprüchliches Prestige kennt, nicht missverstehen: Denn einerseits gilt Heidegger vielen neben Wittgenstein als der größte Philosoph des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, mindestens als ein großer originärer Denker, und damit würde sich selbst ein Philosophiekenner lächerlich machen. Andererseits hat Heideggers Persönlichkeit selbst etwas unfreiwillig Komisches: von der vermeintlich bäuerlichen Lebensweise auf der Todtnauberger Hütte über die drollig-romantisierende Sprache seiner Philosophie bis zum Anspruch, zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts ernsthaft noch das ganze SEIN erklären zu wollen.

Sehr wichtig ist auch Heideggers hochkomplexe Beziehung zum Nationalsozialismus für Pfalzgrafs Vorhaben. Denn wie bereits erwähnt, reicht die Chronik bis ins Jahr 2076. Und die zugrundeliegenden Bezugspunkte für die zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht eingetretenen Jahre 2024- 2076 hat Pfalzgraf keineswegs aus der Futurologie, sondern aus der Zeitgeschichte gewonnen. Will heißen: Er hat auf ein Palimpsest des Zwanzigsten Jahrhunderts sein Einundzwanzigstes angelegt. Mit dem Jahr 2024 also lesen wir ausschließlich Ereignisse, die Spiegelungen des Jahres 1924 sind. Dies führt im Rückblick zu mancher Einsicht, wenn man bemerkt, dass diese beiden Jahrhunderte in manchem ohnehin schon verbunden sind, wie zum Beiispiel das Jahr 1914 und 2014. Wer jedoch ein zwanzigstes Jahrhundert seinem einundzwanzigsten zugrunde legt, kommt, gerade als Deutscher, nicht an dessen apokalytpischen Klimax vorbei. Und genau darum ist die Heidegger-Figur so behände ausgewählt: Pfalzgraf vermeidet hiermit die peinliche Idee, sich selbst in die Haut eines Widerstandskämpfers zu stecken. Die zunächst fragwürdig scheinende Idee, dem zweiten Weltkrieg eine „Große Party“ und die ambivalente Machtergreifung der künstlichen Intelligenz entgegenzusetzen, ist auf den zweiten Blick Ausweis einer Perspektive, die, neben der Anerkennung der Singularität des Holocaust, Optimismus und Pessimismus transzendiert: Alles ist absolut folgenlos. Nur die Moral bleibt uns unauslöschlich auf den Fersen. So kann sich der „Heidegger-Pfalzgraf“ für seinen Dataismus rechtfertigen, von dem auch wir noch nicht wissen, welches Gesicht er uns offenbaren wird. Wird er uns alle auslöschen? Und wenn ja: vielleicht zu recht?

Um Plot und Welthistorie dieser Version kurz zu skizzieren: Die zwanziger Jahre sind geprägt von einer Autokratisierung Amerikas, die sich ja in unserer Zeit bereits abzeichnete. Pfalzgraf nutzt hier vor allem Ereignisse in der Geschichte der Sowjetunion. Die neue Weltmacht analog zum Amerika des zwanzigsten Jahrhunders spielt hier erwartungsgemäß China. Die Rolle Nazideutschlands, wenn auch in einer deutlich differenzierteren Form, spielt eine von Elon Musk entwickelte AGI (übermenschliche künstliche Intelligenz), die dieser nach seiner Wahl zum Weltpräsidenten installiert (im doppelten Wortsinne). der Zweite Weltkrieg entspricht einer sogenannten „Großen Party“, bei der die Bewertung anscheinend dem Leser überlassen bleiben soll. Die Nachkriegsjahre sind dann von einer extremen Regionalisierung gekennzeichnet. Die Klimakrise wird in diesem Szenario durch technischen Fortschritt gelöst, wodurch sich Pfalzgraf in dieser Version als wirtschaftsliberaler zu entpuppen scheint (wenn man nicht weiß, dass in anderen Versionen der Chronik die ganze Bandbreite von Klimafolgen ausbuchstabiert wird). Auch hier ist der Text auf kritische Reflexion des Lesers angewiesen.

Pfalzgrafs Einbindung in diesen historischen Kontext entspricht in etwa derjenigen Heideggers ins zwanzigste Jahrhundert, mit dem einfachen Unterschied, dass ihm nicht der selbe Erfolg vergönnt ist. Weder kann er mit seinem Großprojekt „Pein und Leid“ einen Durchbruch Schaffen, der Heideggers „Sein und Zeit“ entspricht (auf derartige Kalauer sollte sich der Leser einstellen), noch findet er eine anständige Anstellung bei einer Institution. Heideggers komplizierte Geschichte der Kollaboration findet auch in Pfalzgrafs Haltung zum Transhumanismus (der Mensch muss durch KI überwunden werden) und Dataismus (Datenverarbeitung durch KI ist der Schlüssel zu einer perfekten Gesellschaft). Und nach dem Krieg steht sehr lange sein Versuch nach Rehabilitierung als früherer Anhänger der nun verpönten Ideologien. Begleitet und Illustriert wird dies alles durch die Beziehung zur Philosophin Greta Thunberg, und in einem geringeren Maße zu Prof. Edward Snowden, die beide zunächst eine kollegiales Verhältnis mit ihm pflegen (mit Thunberg hat P. sogar eine Affäre), sich dann von ihm ab- und in den Nach-Party-Jahren ihm zögerlich wieder zuwenden.

Rätselhaft bleibt das kurze Verhältnis zu Sarah Urban, die 2023 an Krebs stirbt, und in Allusionen immer wieder in den späteren Texten auftaucht. Hierfür finden sich in Heideggers Leben keinerlei Anhaltspunkte. Daher bleibt diese Chiffre ein seltsamer Fremdkörper in der Chronik.

Es ist verständlich, dass der Autor mit dem zunehmenden Wahnsinn seines Helden, seiner Abgehobenheit, eine Entsprechung von Form und Inhalt schaffen will: Er ist im Prinzip lediglich in der Lage, kleine Szenen auszuspucken, Gags, Ideen, denen jeglicher Formzusammenhang abgeht. Wenn jedoch diese Formlosigkeit zur Form erhoben wird, diese einzige Stärke des Autors über das Transzendieren der Form ausgespielt wird: Ist dann nicht eigentlich alles geglückt?

Heidelberg, Prof. Dr. Franz P. Apfelgasth

Paris Triptychon: Die Clocharden (Linke Tafel). Es gibt hier die verschiedensten Obdachlosen. Es gibt beispielsweise den Typ Dichter, der sich aus Verachtung des Äußerlichen ganz unachtsam kleidet (der Gürtel sitzt nicht richtig, das Hemd hängt heraus) und der gerade so irgendwie lebt, die ganze Zeit am Parlieren ist und der Stadt seine exquisiten Bonmots überantwortet.

Andere starren mich argwöhnisch an und ich bemühe mich, schnell in die andere Richtung zu schauen und dann zu gehen, weil ich weiß, dass sie mich sonst angehen. Ich weiß es natürlich nicht, aber ich denke es mir und vermute, dass ich mir immerhin eine Standpauke anhören muss: Du bist du! Und ich bin ich! Schäme dich!

Manche der Obdachlosen sind überhaupt nicht verrückt (Duh!), sondern eher Wildcamper. Sie campen hier überall, neben der Église Sainte-Élisabeth, auf dem Place de la République und auch mal mitten auf einer Verkehrsinsel. Manche schlängeln sich um die Polder herum, die verhindern sollen, dass sie sich dorthin legen, wie Fakire. Und einer hat keine Matratze, sondern ein Futon, ein Samurai der Stadt. Diszipliniert sitzt er auf seiner Matte und erträgt die Prüfungen, die ihm sein Sensei, die Stadt Paris, aufgetragen hat, um den nächsten Dan zu meistern, welcher das Überleben heißt.

Ein anderer wiederum geht einfach nur wie ein ganz normaler Bürger seines Weges, natürlich mit gequälten Gesicht und missmutig, aber nicht sehr verschieden von den anderen, und man muss sich schon bemühen, seine Obdachlosigkeit zu benennen.

Ein weißer Franzose, etwa 45, Bomberjacke, leicht punkig, spricht auf seinen algerischen Freund ein, der die Unbeeindrucktheit selbst ist. Der Halbpunker ist unrasiert und seine Gesten sind ausschweifend. Besonders fällt sein Finger auf. Die Art und Weise, wie der durch die Luft schießt, wie er ihn sich immer wieder an die Schläfe hält, signalisiert, wie viele essentielle Sachverhalte er durchblickt. So viel Wahrheit, so viel Erkenntnis in einer einzigen Person. Und je unbeeindruckter sein Freund sich gebärdet, desto akrobatischer fuchtelt er in der Luft herum, solange, bis der schließlich doch ein Nicken andeutet und beide ihres Weges gehen.

Überhaupt gibt es viele, die man für Professoren der Literatur hält und die einen intensiv anblicken, als wäre ihnen nichts lieber, als dir ihren neuen Essay über Racine vorzulegen. Aber wenn man sie dann danach fragt, dann haben sie nichts zu sagen, dann wiederholen sie sich und beginnen ein virtuos-verzweifelte Spiel um ihr Nichtwissen zu verbergen.

Es gibt auch einen Zwischenzustand zwischen altem einsamem Mann und Chlochard. Viele sind einfach nur etwas verwahrlost und bewegen sich immer weiter auf die Obdachlosigkeit zu. Sie suchen die Blicke, sie suchen die Möglichkeit, Streit zu beginnen. Aber sie bekommen sie nicht, was sie immer unfreundlicher und unglücklicher macht. Sie waren rebellisch als Jugendliche. Man hat sie gemocht; nicht freundschaftlich, aber man mochte ihren Unterhaltungswert. Das Rebellische hatte was in ihrer Jugend. Heute ist das verblasst, man schätzt die Konformität wieder mehr. Dadurch werden diese Männer plötzlich zu Aussätzigen, was sie nie gewohnt waren, denn das Rebellentum war früher cool nun ist es nur noch peinlich.

Einer trägt moderne Turnschuhe, aber auch eine bayerische Lodenjacke. Er hat weißes Haar mit einem leichten Gelbstich, einen langen Bart und einen Zopf hinten. Er steht an einer Ecke und raucht, als wisse er nur zu gut um seinen Style.

Der Rowdy mit Armeehosen raucht und spuckt einen grün-gelben Auswurf vor sich auf den Boden. Er transportiert seine Habe in einem Bergsteiger-Rucksack und einer doppelt gefassten Plastiktüte und schaut sich offensiv nach anderen Menschen um. Er sitzt vor dem Café, in dessen Pavillon ich mir ein Croissant bestellt habe und ich stelle mir vor, dass er dort draußen auf mich wartet. Was soll ich tun? Soll ich ihm seine Aggressivität vorwerfen? Sicherlich nicht. Und sicherlich werde ich auch keine Apologie veranstalten, denn wir können jetzt auch nicht die Verantwortung des Einzelnen leugnen. Die Lösung liegt wohl schlicht darin, sich nicht in Moralisierungen zu ergehen. Derweil bin ich beeindruckt von der Menge an Körperflüssigkeiten, die er vor sich ausbreitet. Seine Schuhe sind geeignet, meinen Kopf ganz ohne Not zu zertreten. Ich bitte den Kellner, den Mann für mich zu entfernen, und er tut es ohne zu zögern. Er krempelt seine Ärmel hoch und beginnt einen Faustkampf. Der Kellner ist kampfsporterfahren und der Mann in Armeekleidung unterliegt klar. Er ist zwar stärker, aber unpräzise. Knockout.

Der beleibte Obdachlose im Hoodie mit Mütze und perfektem Platz an einer Ecke von Notre Dame ist reich geworden. Mit seinem Border Collie wartet er auf sein Einkommen. Auf einem roten Pappschild steht eine herzzerreißende Geschichte in drei Sprachen, die sein Einkommen sichert und das Futter des Hundes. Und eine luxuriöse Wohnung in Montmartre. Bei Regen spannt er einen überdimensionierten schwarzen Regenschirm auf, was ihn noch mehr wie ein Buddha der Armut wirken lässt. Mit Passanten unterhält er sich freundlich.

Dann gibt es noch den obdachlosen Sänger, der das perfekte Klagelied anstimmt. Er singt: bitte gib mir doch ein bisschen was, gib mir etwas, damit ich nicht verhungern muss, die Welt ist ungerecht zu mir. Und er hat recht und er ästhetisiert es auch zurecht und sein Timbre schwingt, als zerfledderte die Membrane des Seins. Er ist erfolgreich mit dieser Geschäftsmethode. Selbst die Kirchgänger, welche nicht dafür bekannt sind, außerhalb der Kirche ihr Geld zu lassen, werfen ihm ein wenig hin, weil sie sich sagen: mein schöner Anzugrock passt in dieses Flair, passt in diesen französisch-andalusischen Flamenco. Und wenn Du dich darüber echauffierst, dass ich die Geschäftsmethoden der Bettler beschreibe, dann nur, weil du sie in Gedanken schwach halten möchtest und ihnen keinen Geschäftssinn zugestehst.

Ich bemerke, dass mir ein Taschendieb folgt, und es stört mich nicht weiter. Ich gehe einfach weiter. Und nach einer Zeit bemerke ich dann, dass mir zusätzlich noch ein Bettler folgt, dem ich nichts gegeben habe. Ich dachte, er würde schon irgendwann aufgeben, doch er tat es nicht. Da ich mich relativ langsam bewege, hat er keine Mühe, mir hinterherzukommen. Er sagt nichts, er folgt mir einfach. Und nun hat sich noch ein Verkäufer angeschlossen, ein Mann, der mir eine gefälschte Uhr verkaufen wollte, es aber nicht geschafft hat und immer weiterfeilscht. Das Seltsame ist: diese drei scheinen einander nicht zu bemerken, oder wenn sie sich bemerken, kein Interesse füreinander zu haben. Warum bittet nicht der Bettler den Uhrenverkäufer um eine Spende? Warum stiehlt nicht der Taschendieb dem Bettler die Uhr, die dieser dem Uhrenverkäufer heimlich entwendet hat? Nun, ich denke, das liegt daran, dass sie füreinander völlig uninteressant sind.

Der hipste Obdachlose liegt in seinem Zelt an der Église Saint-Vincent-de-Paul und genießt das milde Wetter. Er hat die AirPods im Ohr und sucht nach dem richtigen Sound für die Misére, die da heißt. Ziehe nach Paris und finde keine Wohnung.

Über Obdachlose zu sprechen in jeder anderen Form als in politischer oder sozialkritischer Kunst, ist verwerflich. Aber sozialkritische Kunst beherrsche ich nicht, weil ich mir nicht anmaßen möchte, die wahren Ursprünge für das Unglück zu kennen, wie das so viele andere ganz ohne Not tun. Mir bleibt also nur zu beschreiben, was ich sehe, und mit der Konsequenz klarzukommen, dass ich damit einen abscheulichen Text produziere. Denn überhaupt keine soziokulturellen und ökonomischen Vorstellungen zu haben oder einfließen zu lassen ist natürlich noch viel ideologischer.

Der gepflegte Bettler bittet mich ganz eloquent auf Französisch um etwas. Ich habe Mühe, ihm verständlich zu machen, dass ich gar kein Französisch spreche. Und er bedeutet mir, das sei gar kein Problem. Mit wenigen Wörtern Englisch erklärt er mir, dass er was zum Drehen braucht. Ich versichere ihm, dass ich leider nicht rauche. Und wieder versichert er mir, dass das gar kein Problem sei, er brauche nur einen Euro. Mit langgezogenem O, ohne das U, das die Amerikaner am Ende aussprechen. Als ich den Kopf schüttle, geht er unverzüglich und zielstrebig seines Weges und geht auch an die Frau vorüber, die gerade eine Zigarette angezündet hat und ihm sicherlich eine gegeben hätte.

An die Ampeln hat man Menschen gestellt, die mit einer roten Kelle darauf achten, dass die Fußgänger die Verkehrsregeln befolgen. Es scheinen Obdachlose oder Arbeitslose zu sein, denen man eine gelbe Warnweste umgeschnallt hat. Und dazu eine Beschäftigung. Es sind Ampeln, an denen ohnehin fast nichts passiert. Daher können sie weder viel falsch noch richtig machen. Auf diese Weise sollen Sie Selbstwirksamkeit erfahren. Ab und zu schnauzen Sie einen Touristen an, was gut ist. Und die Stadt denkt sich sicher, auf diese Weise halten wir sie davon ab, Drogen zu nehmen. Vielleicht ist das eine geniale Idee. Und dennoch kommt es mir so antiliberal vor.

Ein zerzauster Mann mit Lederjacke und lichtem grauem, ungewaschenem und ungeschnittenem Haar, aber keinem Bart, sitzt in einem Hauseingang und isst eine Banane, während er sich mit dem kleinen Finger so tief in der Nase bohrt, wie man es sich nur vorstellen kann. Dann zieht er es heraus und isst es zusammen mit der Banane.

Ich stelle mir ein Paris vor, in dem es nur Bettler und Touristen gibt. Keine Einwohner. Alle Wohnungen sind Airbnb und von Touristen besetzt. Die Airbnbs werden von Touristen oder Bettlern verwaltet. Wer verdient, ist nicht zu ermitteln. Die Touristen gehen durch die Reihen der Bettler und sind schockiert, wie sehr die Sitten hier verfallen sind. Die Bettler schauen auf die Touristen und sind schockiert, dass sie selbst nicht die Touristen sind.

Paris Triptychon: Die Stadt (Mitteltafel). Das Stadtklimpern vermischt sich mit der Musik aus meinen Kopfhörern. Ich höre, wie Lutoslawskis Stakkatos von einer Hupe eines Medikamentenausliefers imitiert werden. Das Grundrauschen der Schleuse dieses Kanals liegt noch unter den brummenden Harmonien, die Stimmen von Passanten lockern das Latein der Sänger. Ist das eine Pauke oder hat jemand die Tür eines Lieferwagens zugeschlagen? Jeder trägt Kopfhörer oder AirPods. Unsere Individualmelodien werden umrahmt von der Stadtmelodie, der wir nicht entfliehen können, auch nicht mit Noise Cancelling. Das ist der Zwang, dem wir ausgesetzt sind, der uns als letzter noch vereint und unsere Playlist ist der Dijon, den wir ihm heimlich beigeben. Und natürlich ist der Klang aus unseren Kopfhörern nur eine Metapher für den Klang aus unseren Köpfen, den Gedankenstrom, der ohnehin alles unterspült. So bilden sich die Kaskaden der verschiedenen Ebenen einer Klangwelt, die unsere Realität heißt.

Gutes Stadtdesign. Gute Regierung. Gute Sozialität. Gute Nachbarschaft. All dies muss uns vor allem dienlich sein beim Warten. Das Warten ist die menschliche Grundkonstitution. Überall stehen und sitzen sie. An die Mauer gelehnt, rauchend steht der ärmliche Obdachlose mit seiner Baseball Cap. Auf der Bank am Kanal sitzt der frischgeschiedene 60-Jährige und starrt ins Wasser. Daneben am Wasser sitzen die jungen Perserinnen und essen Käse und Baguette. Auch sie warten auf etwas. Der Wartezustand ist der Zustand, in dem beim Menschen die Grundkonstitution des Wartens auf den Tod explizit wird. Wir sehen den Menschen an und er bemüht sich dabei gut auszusehen. So ist die Coolness in die Welt gekommen. Die Coolness ist der Gestus, der sagt: Schau ruhig her, es macht mir gar nichts aus zu warten. Ich strahle aus, ohne zu müssen; ich bin nicht verwirrt durch die Tatsache, dass ich nicht weiß, wie es weitergeht.

In der ganzen Straße wird nur eine einzige Ware angeboten. Hochzeitsmode. Nur ganz selten gibt es mal eine Apotheke. Ansonsten gibt es nur Herrenanzüge und Frauenbrautmode. An den Eingängen stehen die Besitzer und wachen darüber, wer den Laden betritt, damit niemand die kostbare Billigware stiehlt, deren Preise bei 40 Euro beginnen und dann bis ins Unendliche schießen. Seltsamerweise haben die Besitzer selbst nur selten diese Anzüge an und sehen eher aus wie Kioskverkäufer. Anscheinend kauft ganz Frankreich hier seine Brautmode. Und wenn man heiratet, muss man vorher als Ritual einen Trip nach Paris buchen, wo man zunächst von diesem Herrn eingelassen wird und sich dann beraten lässt, um den perfekten Anzug zu finden.

Die „Deux tons“ der Franzosen sind viel diverser als die deutschen Martinshörner, welche nur die Quarte kennen. Hier gibt es die große Sekunde, die Quinte und sogar eine kleine Sechste habe ich schon gehört. Und ich würde mich nicht wundern, wenn mir eine Oktave oder Terz unterkäme. Was mich aber überraschen würde, wäre ein Tritonus oder eine Septime. Die Dissonanz behagt den Franzosen genauso wenig wie den Deutschen.

Die sogenannten taktilen Bodenindikatoren, die Noppen, die man für die Blinden auf die Pflastersteine gemacht hat, liegen ganz verstreut herum, sodass man, wäre man blind und würde versuchen, mit dem Stock zu ertasten, wo man stehen bleiben soll, verrückt werden müsste. Das liegt daran, dass hier vor einiger Zeit Bauarbeiten waren. Die Straße wurde neu gemacht und die Pflastersteine und Fliesen wurden entfernt, herausgenommen und danach wieder unsachgemäß eingesetzt, sodass die Muster nun ganz erratisch sind.

Überall auf der Welt gibt es Bars, und überall auf der Welt muss der Barbesitzer mal Hand anlegen. Hier ist einer, wie aus dem Buche, mittleres Alter, leicht ergraut, keine besondere Kleidung, leichter Bierbauch. Und er versucht, ein braun-beiges Segel an einer Stange anzubringen, vielleicht als Sonnen- oder Regenschutz, vielleicht als Schutz vor herunterfallenden Gegenständen von der Baustelle des vergerüsteten Gebäudes. Dass wir in Paris sind, sieht man daran, dass er dabei einen Aperol neben sich stehen hat. Das ist der kleine Unterschied.

Wenn man Taschen der Ästhetik in einer sozialen Umgebung schafft, dann bewirkt man dadurch, dass die Menschen ästhetischer und damit qualitativer leben. Das kann man in Paris sehr schön beobachten. Dass sie dann andere Tugenden vernachlässigen, ist nicht weiter problematisch. Viel schwieriger ist der Sachverhalt, dass sich bestimmte Ästhetiken herausbilden, die lächerlich wirken. Es bilden sich Schulen heraus, Moden, deren Beherrschung nur wenigen gelingt. Oder besser gesagt, wem die Beherrschung zu gut gelingt, der verliert. Gleichwohl: wem sie gar nicht gelingt, der verliert auch. Es ist ein bisschen wie der Unterschied zwischen Kunst und Kultur.Man sieht in der Stadt sehr viele Leute, die dieses Spiel nicht beherrschen. Sie tragen Mäntel und Schals und vapen und sehen aus wie Filmschauspieler, aber dann doch nicht so elegant, doch nicht so charismatisch, und zu jung. Es erinnert mich ein bisschen an 19. Jahrhundert, als es noch keine Jugend gab und alle jungen Menschen aussehen sollten wie alte. Sie ließen sich Bärte stehen und wirkten generell immer ein bisschen deplatziert. Auf diese Art und Weise sind hier sehr viele Menschen deplatziert. Sie machen sich lächerlich. Es gibt dieses Phänomen in jedem Milieu und in jeder Mode. Selbst in den unteren Schichten kann nicht jeder wie ein echter Gangsterrapper aussehen. Und die jungen Sorbonne-Studenten können nicht alle wie Timothée Chalamet aussehen. Es gibt einen Zwischenweg, der mit Schlichtheit zu tun hat und Individualität. Man kann das schaffen durch genuin kreative Entscheidungen. Das muss nicht immer gleich der Hauptgewinn sein. Der ist doch gar nicht nötig. Es geht nur darum, nicht in die Falle zu tappen, die die Ästhetik dir stellt.

Ich komme bei einem Taxidermisten vorbei, einem Tierpräparator, und wundere mich wieder einmal, dass so etwas existiert. Ja, dass hier alle bekannten Tierarten vertreten sind. Aus dem Schaufenster grunzt mich ein Ferkel an, und am Kronleuchter hängt ein Waschbär in neckischer Pose. Sie verstehen Ihr Geschäft hier gut, wie überall in Paris. Und man sieht nirgendwo die unschönen Fehler, die Amateurjägern passieren, wodurch die präparierten Tiere wie Zombies aussehen, deren Haut und Fell im Abfallen begriffen ist, mit Narben wie Frankenstein. Und selbst hier haben Sie eine modern gekleidete junge Pariserin an der Kasse, der ich zutraue, Veganerin zu sein. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob hier ein moralischer Widerspruch vorliegt oder nicht, und habe auch nicht vor, es zu tun.

Besonders interessant ist es, in Paris die schwarze Bevölkerung zu beobachten. Auch hier gibt es, so vermute ich, alle sozialen Schichten, vom Geschäftsmann, der ein bisschen zu perfekt angezogen ist und demnach eigentlich als Model besser aufgehoben wäre, über den Soldaten, der mit seiner Patrouille schwer bewaffnet durch den Louvre schlendert und sich einen Seitenblick auf eine schöne afroamerikanische Touristin nicht verkneifen kann (deren Erwiderung ich beobachtet habe, er aber nicht), bis zur Putzfrau, die ein Bündel mit Decken auf dem Kopf transportiert, was eine polnische Putzfrau in Deutschland niemals tun würde und was vielleicht die Tradition der Wolof oder Bambara verrät, aber das habe ich gegoogelt.

Das erste Erblicken von Hundescheiße macht einen aufmerksam für andere Flecken Hundescheiße in der Nähe. Dieses Stückchen bleibt mir besonders in Erinnerung, weil es perfekt geformt ist, wie ein Hexagon. Und in der Mitte hat es ein Nike-Logo. Jemand hat es unfreiwillig ausgestanzt und mit dem nächsten Schritt wieder auf der Straße platziert. Und jetzt liegt es da und sagt jedem, der vorbeikommt und es sehen will: Just Do It.

Eine etwa 50-jährige Thai steht in Steppjacke an der Straße und spricht konzentriert etwas vor sich hin, während sie die Finger ihrer angespannten Hände konzentriert aufeinander presst. Es ist eine buddhistische Übung, ein Gebet, das ich aus einem Youtube-Video kenne.

Sie hat ihr Fahrrad schon abgestellt, die erstaunlich schlanke, 53-jährige Französin, mit den schwarzen Jeans, in der sie einen Hintern wie eine 23-Jährige hat. Wodurch sie auffällt, ist ihr komplett verspiegelter Retro-Fahrradhelm, in dem sich alles um sie herum wiederfindet, was so außerordentlich ungewöhnlich ist, dass ihr alle Umstehenden zu diesem perfekten Accessoire gratulieren müssen. Wie kann man in Würde auftreten, nachdem die Jugend vorbei ist? Sie zeigt es uns allen.

Diese Boulangerie hat gerade geschlossen und die Mitarbeiterinnen beginnen mit dem Aufräumen und schließen das Geschäft. Sie heben die Polster an und finden selbst hier noch eine Beschäftigung. Ich sehe dies von draußen und beim nächsten Schritt sehe ich, dass der Lieferanteneingang offen ist und dass auf dem herausgehobenen Backblech etwa 15 frische Baguettes ausdampfen. Ich schaue mich um, lege meine Tasche und meinen Schirm draußen ab, sodass sie mich nicht stören und verraten. Ich sehe mich um und gehe langsam hinein, immer mit dem Gedanken, dass ich ja fragen kann, ob der Laden noch geöffnet hat. Doch niemand sieht mich und ich beuge mich herunter, um ein Baguette anzufassen. Doch ich sehe am Dampf, wie heiß es ist und dass ich mir die Finger verbrennen würde. Also streife schnell einen Handschuh über, greife mir das Baguette und zwinge mich, nicht zu schnell hinauszugehen. Dann nehme ich meine Sachen, die draußen stehen, und suche das Weite.

Eau du Robinet! Selbst die einfachen Dinge klingen in dieser Sprache, als wären sie von Dichtern erdacht. Drei Buchstaben, wo man im Deutschen nur einen verwenden würde. Man denkt im Französischen immer die Schrift mit, wenn man spricht. Würde man es auf Deutsch transkribieren, es klänge wie eine Parodie.

Die Betrachtung und Erkenntnis von Sehenswürdigkeiten folgt einem seltsamen Muster. Beim ersten Mal ist es eine leichte Faszination, die sich ihrer selbst bewusst ist und die von sich ein wenig enttäuscht ist. Schließlich sind der Sehenswürdigkeiten viel zu viele. Beim zweiten Mal dann bemerkt man dasselbe Gebäude mit einem Gefühl des Du-schon-wieder und ist überrascht von der eigenen Unbeeindrucktheit. Man muss diesem Gefühl entgegenstehen und sich bemühen die Spannung auszuhalten. Es bringt natürlich nichts sich die romantische Verzauberung zu wünschen, aber man kann die Arbeit tun, man kann den Blick konsequent auf die Ornamente richten, sein Formverständnis überprüfen, sich Fragen stellen. Es ist also nur der Weg der Rationalität in der Lage mit dem Phänomen umzugehen. Die wirkliche Begeisterung für ein Gebäude entsteht nicht in diesem Moment. Sie wird erzeugt durch die Aushandlung, durch das Erzählen von dem Gebäude, durch das Erörtern seiner kunsthistorischen Signifikanz, ganz gleich in welch einfacher Sprache. Dann kann man, wenn man das Gebäude beim nächsten Besuch wieder zum ersten Mal sieht, tatsächlich so etwas wie Begeisterung empfinden. Dann stellt sich genau das Gefühl ein, das man sich beim ersten mal gewünscht hatte. Aber natürlich bleibt auch dieses unverfügbar. Beim vierten Mal wird es vielleicht schon wieder verschwinden, oder es wird sich intensivieren, oder die Beziehung zu dem Gebäude wird eine Art Ehe, die von Liebe, Hass und Freundschaft gleichermaßen geprägt ist.

Der elegante Mann mit den zurückgegelten Haaren tritt dem Boulanger mit den frischen Baguettes und der Schürze aus dem Weg. Er tut so, als würde er gleich die Straße überqueren müssen, wird es aber nicht tun. Er trägt elegante schwarze Schuhe, einen schlichten blauen Mantel, seine Haare zurückgegelt, seine Brille ist bernsteinmarmoriert. Er trägt eine schwarze Stofftasche und raucht ganz elegant. In der Rechten unter der Tasche hält er eine Bibel. Seine Gesichtszüge sind markant und leicht gebräunt. Während er so steht, machen sich zwei Mädchen daran, ein TikTok-Video aufzunehmen, was er mit einer einzigen Geste Einhalt zu gebieten versteht. Er möchte ihnen Vernunft einreden, denn so etwas kann man nicht vor einem Gotteshaus tun. Diese Kirche, die Barock und Klassizismus vereint, wird von der Piusbruderschaft besetzt, welche sich gegen den ihrer Meinung nach zu liberalen Vatikan wehrt. Schöne, charismatische Männer wie er sind der Grund dafür, warum ich nicht mehr an Weisheit glaube. Die Meister haben in unserer Zeit bewiesen, dass sie nur Scharlatane sind, dass ihre Autorität ein Machtgebaren ist, welches man unter keinen Umständen respektieren darf. Man muss natürlich freundlich ihnen gegenüber treten, aber man muss ihnen seine Skepsis vorhalten. Das allein genügt meist schon, um sie aus der Fassung zu bringen.

Es gibt auch den einsamen, mittelalten Deutschen, graues Haar, hellbraune Hose, grünbraune Jacke mit Kapuze, eine Stofftasche umgehängt und einen Schirm in der Hand. Er lässt sich bei jedem Schritt ein wenig fallen. Er trägt eine Brille und ist immer bemüht, irgendwo hin zu starren, wahrscheinlich, weil er nicht mehr ganz so gut sieht, nicht mehr ganz so gut hört und generell die Dinge gern genau anschaut. Er hat irgendetwas studiert, vielleicht Klavier, und er fährt gelegentlich nach Paris, weil er in Deutschland nichts Schönes mehr findet. Paris trägt die Schönheit seiner Jugend. Hier war er einmal mit seiner Frau, bevor sie ihn verlassen hat, oder er sie, weil er eine Affäre mit einer Studentin hatte. Ihn würde ich gerne auf den Pius-Bruder hetzen. Oder besser, ich wünschte mir, ihn neben jenem stehen zu haben, während dieser etwas seiner Meinung nach moralisch Fragwürdiges tut. Dann würde er sich empören, denn empören kann er sich gut und er tut es auch zurecht und eloquent. Und dann würden die beiden diskutieren. Sie sind etwa gleich alt und der Deutsche würde fließend französisch sprechen, natürlich mit einem sehr starken Akzent. Und er würde gestikulieren und sein ebenfalls braunes Hemd würde leicht auseinandergehen dabei.

Viele Pariser joggen, auch Ältere. Es hat Ihnen noch niemand gesagt, dass es vermutlich nichts Ungesünderes gibt, als in einer Großstadt zu joggen. Ganz gleich, ob man nun am Smog erstickt oder angefahren wird.

Die TikToker vor dem Pantheon sind auf ihre amateurhafte Weise hochprofessionell. Sie haben eine Kamerafrau, eine perfekte Diversität, eine, die parallel zur Kamerafrau die Choreografie macht und die Box hält und Anweisungen gibt. Die Touristen beobachten es von der Seite, filmen selbst und klatschen ein klein wenig. Sie sind davon genauso belustigt wie von Straßenmusikanten oder Hütchenspielern.

Unsere Zeit ist falsch, nicht nur weil sie keine Klassik ist, sondern auch weil sie keine Klassik mehr sein will. Wie soll man sonst zur Klassik gelangen, als indem man sie anstrebt? Haben sich Goethe und Schiller nicht um die Klassik der Griechen bemüht? Die Klassizisten sind oft gescheitert, aber gelegentlich ist ihnen doch auch was gelungen. Und wenn wir heute in den Cafés sitzen und die Stile durcheinander leiern, so ein bisschen Jugendstil und so ein bisschen Industriezeitalter und ein bisschen Romantik und ein bisschen Barock, dann zeigt das nur unsere Verlorenheit und nicht etwa unsere Souveränität.

Illustrierte, Zeitungen, Röhrenfernseher in Kunstausstellungen, selbst irgendwo ein Faxgerät und Briefmarken, alles findet irgendwo seine Nische und bleibt erhalten. Doch dies ist im Großen und Ganzen nur eine Illusion, denn die früheren Zeiten sahen ganz genauso aus und nicht alles bleibt erhalten. Die früheren Gesellschaften hatten genauso einen Synkretismus der unterschiedlichsten Medien, nur dass darin Medien enthalten waren, die wir längst verabschiedet haben und die langsam ausgetrocknet sind.

Auf dem Friedhof von Montparnasse sitzend und mich wundernd, dass mich der uferlose Tod um mich herum nicht angreift, wird mir klar, dass es einen Zustand geben kann, in dem einen gar nichts angreift. Und je nachdem, ob man diesen Zustand als sinnhaft erlebt oder nicht, nennt man ihn Erleuchtung oder eben Entfremdung. Wie kann es sein, dass es mich nicht anfasst, dass hunderte, ja tausende Tote hier um mich herum verscharrt sind? Und gleichsam muss man sich fragen, wie es sein kann, dass das Wunder des Lebens, das in jedem Grashalm hier steckt und sonst auch überall einen ebenso nicht anfasst? Die Antwort ist offensichtlich: Das Angefasstwerden selbst hat seinen Zweck und wer keinen Zweck mehr hat (Zeitgenosse), der kann nicht angefasst werden. Der Zeitgenosse ist erst noch auf der Suche nach neuen Zwecken und geht daher an allem vorüber wie ein Unbeteiligter.

Während ich mich auf einer Bank ausstrecke, kommt ein Friedhofswärter zu mir und sagt, hier sind die Toten, haben sie ein bisschen Respekt vor Ihnen! Ich richte mich auf und sage, die Toten sind nicht hier, nur ein Lebender. Haben Sie doch ein bisschen Respekt vor dem!

Den Menschen können wir ja nur deswegen das Nichts nennen, weil an dieser Stelle, wo der Mensch sein soll, etwas vermutet worden war. Man muss ihn also das Vermutete nennen. Denn überall sonst ist das Nichts ja auch. Das Nichts an der Stelle des Menschen, es ist nur durch die Vermutung besonders.

Wie der Flügelschlag eines Falken sind die Wolken jetzt. Sie schlagen über das Land und verdecken die Sonne mit einem Mal. Und der Wind wird stärker und die Bäume rauschen. Und im nächsten Schlag ist die Sonne wieder da.

Ich beobachte, wie die Angehörigen von Jean-Paul Sartre als Einzige hier mit einem Auto vorfahren dürfen, um das Grab zu pflegen. Sie räumen die kleinen Mao-Bibeln von der Grabplatte und geraten in Streit mit vier Tiktokern in schwarzen Rollkragenpullis, die eine Choreographie zu einem Elektro-Swing-Remix von Avec le temps von Léo Ferré einstudieren.

Hier sind die Gemeinsamkeiten von Tourismus und Religion noch am ehesten zu spüren, wenn die Touristen zu den Gräbern berühmter Persönlichkeiten pilgern, ohne irgendeine Art von echter Verehrung für sie zu empfinden oder gar Transzendenz zu erwarten. Sie tun es einfach, weil man ja irgendetwas tun muss. Und das ist letztlich sehr verständlich. Denn wie wir alle sind sie Individuen, die sich nicht mehr minütlich darum kümmern müssen, Nahrungsmittel zu finden. Und die Transzendenz ist in ihrem Urgrund nichts anderes als die absolute Versorgung mit Nahrungsmitteln. Wenn sie sichergestellt ist, ist das Spiel zu Ende.

Zu Sartres Grab passt der französische Brauch, die Grabsteine berühmter Persönlichkeiten mit Lippenstift zu küssen, ganz besonders. Denn das hässliche Männlein hätte sich das sicherlich schon zu Lebzeiten gewünscht.

Dass die Moderne ein Fehler war, muss sich einem aufdrängen, wenn man zwei Tage lang in Saint-Martin war und von dort zum Louvre spaziert ist, zum Panthéon. Und wenn man dann zum ersten Mal ins Quartier Latin kommt und dort zum ersten Mal seit seinem Paris-Aufenthalt Gebäude sieht, die jünger sind als 80 Jahre. Diese Zweckbauten ohne Ornament stechen so unfassbar traurig aus der noch intakten Architektur des 19. Jahrhunderts heraus, dass einen fast der Schlag trifft. An anderen Gegenden, wo die Moderne normal ist, gewöhnt man sich schnell an diese Architektur. Hier in Paris kann man noch in dem Traum schwelgen, dass das 20. Jahrhundert niemals passiert ist. Das heißt natürlich nicht, dass man sich in billigen Wünschen nach Tradition und Vergangenheit ergehen darf. Aber es heißt, dass man die These ernst nehmen muss, dass wir wirklich falsch abgebogen sein könnten.

Durch ihre extreme Fixierung auf Paris, die natürlich absolut verständlich ist, haben sich die Franzosen selbst ein Bein gestellt. Wer nicht Pariser ist, das heißt, wer es nicht schafft, in Paris zu wohnen, der ist im Prinzip automatisch ein Versager. Für manche ist der Imperativ in Paris zu wohnen so stark, dass sie in die Pariser Außenbezirke ziehen, wo das Leben nicht lebenswert ist, nur um sagen zu können, dass sie Pariser sind. Aber viele gehen natürlich aus finanziellen Gründen nach Lyon oder Marseille, weil sie dort eine Arbeit finden, und müssen dann selbstverständlich ständig Urlaub in Paris machen. Während sie dann in Paris sind, müssen sie missmutig dreinschauen, weil sie die ganze Zeit daran erinnert werden, wie unglücklich sie sind, nicht hier wohnen zu können. Wenn sie dann aber nach Hause gehen zu ihren Freunden, sieht es ganz anders aus. Sie blühen auf und berichten von dem Wunderland Paris, in dem sie die beste Zeit ihres Lebens hatten, und das sie so bewundern. Sie kritisieren Paris natürlich auch ein wenig, so wie man seine Heimatstadt kritisiert, aber sie haben eigentlich kein Recht, Paris als ihre Heimatstadt zu kritisieren. Doch indem sie es trotzdem tun, eignen sie sich Paris ein wenig an. Und ihre Freunde, die auch in Saint Denis wohnen, wissen das natürlich, aber sie spielen das Spiel mit, weil sie in der nächsten Urlaubssaison genau das gleiche tun werden.

Eine 60-jährige kleine Französin in ganz normaler Kleidung legt sich auf die Stufen des Odeon-Theaters und tut so, als posiere sie für ein Foto. Sie raucht dabei und sieht aus wie ein Kind. Aber sie ist kein Kind mehr. Und es wirkt absurd, dass sie sich das erlaubt. Vielleicht ist sie Regisseurin oder Schauspielerin. Vielleicht ist es ein Theaterprojekt, bei dem die Schauspieler um das Theater herum verteilt werden, um NPC-Rollen zu spielen. Aber letztendlich ist es egal.

Die Apotheken haben grüne, kreuzförmige Neon-Leuchtschilder, in denen die Kreuzform hundertfach iteriert, variiert, abgewandelt und mit nützlichen Informationen wie dem Datum und der Temperatur garniert wird. So schafft das Kreuz eine Art Apotheken-Event, ein Gesundheits-Event, das man nicht verpassen will. Man wünscht sich förmlich krank zu sein, um in dieses trashige Wunderland der Heilung eintreten zu müssen und sich eine Aspirin zu besorgen.

Welch Verbrechen hast du nur begangen mit deiner Güte? Wie grausam warst du, als du ihm dieses Lächeln schenktest, in dem Glauben, etwas Gutes zu tun. Du weißt doch ganz genau, dass man so was nicht macht. Du hast die Gabe, abzuschätzen, wessen Blicke er sonst so bekommt. Würde man die Obdachlosen denn mit Kaviar beschenken? Wäre ihnen nicht ein gutes Brot, ein Burger viel lieber? Du aber wirfst Perlen vor die Säue und erwartest, dass sie daran nicht ersticken.

Die Franzosen fassen sich noch an. Ein junger Mann erkennt sprungartig eine Bekannte, die mit ihrem Freund unterwegs ist. Hält sie an der Schulter fest. Und die reagiert erst brüskiert, dann kann sie die Bekanntschaft nicht mehr leugnen und geht zu einem Gespräch über. Und auch ihr Freund schafft es, eine Miene der Freundlichkeit aufzusetzen. Sagt hallo auf Französisch und für einen Ausländer wie mich klingt schon das kultiviert.

Ein alter Mann mit braunen Sakko und Schiebermütze, der nach vorne gebeugt, energischen Schrittes geht, eine Brille trägt und ein bisschen aussieht wie ein französischer Naturforscher aus dem 19. Jahrhundert. Ein Sikh, der eine große Sackkarre schiebt und ohne Turban und Bart nicht als solcher zu erkennen gewesen wäre. Der Mann, der als Frau mit Hosenanzug angezogen ist und extrem missmutig dreinschaut, etwa 60 Jahre, schlecht geschminkt, der Lippenstift ganz falsch aufgetragen, man weicht ihm aus und weiß nicht, ob er aus Verrücktheit so aussieht oder weil er Trans ist, und man schämt sich gleich für den Gedanken.

Der Dyson trocknet meine Hände nicht, sondern er treibt nur die Feuchtigkeit unter den Hemdärmeln meine Arme hinauf.

Ein junger Franzose mit Goldlöckchen geht vor mir her, vielleicht ein Student, mit einer karierten hellen Hose und einem nettbraunen Mantel und einer Stofftasche mit einem kultivierten und gleichsam durchschnittlichen Gang. Weiß er, dass man heute so nicht mehr aussieht? Dass die 60er vorbei sind?

Ein gutaussehender, gepflegter Mann ist plötzlich hinter mir, während ich dies aufnehme. Als ich ihn bemerke, überquert er fast fluchtartig die Straße. Ich kann nicht sagen, ob er mich wirklich bestehlen wollte. Ich schaue ihm fassungslos hinterher, während er mit einer Menschenwoge emulgiert. War es vielleicht ein Cruiser, kommt mir der Gedanke. ich weiß gar nicht, warum. Andererseits gibt es immer irgendwelche Gründe, warum Menschen in deine Richtung schauen, warum sie hier auf etwas warten könnten. Es gibt hier einfach zu viel.

Diese beiden Texte hat die Spracherkennung nicht richtig erkannt und ich habe ihren ursprünglichen Sinn vergessen. Ich drucke sie aber dennoch ab:

[Hier seht ihr, dass die Menschen in der Kettenhaltung verschwunden sind. Sie verschwendet flächendeckend, indem Sie eine Lampe benutzen, um sich besser zu balancieren. Es sind nur noch wenige Haare vorhanden. Sie tragen eher schlicht dunkle Farben. Und sie daneben einen Mantel. Beide hat Gott nicht mit. Sie hat sich zum Ausmaß entstattet. Daher hat sie sich selbst zu schwer gegriffen und hat sich ihre Lippen aufschütteln lassen. Doch aus irgendeinem Grund ist es ganz schief gegangen. Und die Lippen stehen spitznapp und sind überhaupt nicht zum Fressen des Gesichts. Vielleicht kann man das als einen der wenigen Fälle hier wirklich nur mit noch mehr Schönheits-OPs berichtigen.

Sie hat letztlich alles getan, was man tun kann. Sie hat gute Schuhe, einen guten braunen Mantel. Ihre Tasche ist elegant. Ihre Stofftasche ist hip und einfach. Ihre Haare sind braun und tragen noch eine leichte Blondfärbung. Nur leider ist Ihre Nase ein wenig zu groß. Eine Muttermeldung ist ein wenig zu sichtbar. Sie wird grausam. Sie macht doch alles richtig.]

In den Großstädten der Welt stehen nun an jeder Ecke alte Männer mit einem Smartphone in der Hand, sind an die Wand gelehnt und folgen interessiert einem unbestimmten Flimmern. Manchmal haben sie Warnwesten an, manchmal Steppjacken, manchmal beides. Einer hat seine Brille auf die Glatze geschoben. Die linke Hand in der Bauchtasche, immer den Blick leicht nach unten ins Flimmern gesenkt. Was ist es, was Ihre Aufmerksamkeit so bannt, dass Sie Tag um Tag so verweilen? Sie bilden eine Garde der Einzelgänger. Die Warnweste haben Sie sich sicher nur im Laden gekauft und tun so, wenn beispielsweise die Müllabfuhr vorbeifährt, als hätten Sie die wichtige Aufgabe, den Verkehr zu regeln. Aber die Müllmänner scheinen Sie gar nicht wahrzunehmen. Sie machen Witze über Sie. In der Nähe von Kinderspielplätzen will man solche Typen nicht haben. Sie wechseln auch nie den Platz. Sie werden auch nie verscheucht. Sie betteln nicht. Welches geheime Versprechen geht von dem Leuchten aus? Ist es das Versprechen auf einem anderen Standplatz in einer besseren Gegend? Oder verspricht es einen Urlaub im Süden? Verspricht es Frauen? Sie sind nicht einsam. Denn sie bekommen Besuch. Die einzigen Momente, in denen Sie aufschauen, sind diejenigen, in welchen ein Bekannter vorbeikommt und mit Ihnen ein Pläuschchen hält. Sie gestikulieren dann aufgeregt und erörtern etwas, das man von Weitem nicht hören kann. In dieser Zeit ruht das Flimmern im Inneren der Steppjacke. Und sobald sich der Bekannte entfernt, vielleicht ist er ja selbst auf dem Weg zu seiner Ecke, wird das Smartphone wieder herausgezogen und entsperrt. Besonders in der Dunkelheit entfaltet es einen erstaunlichen Glanz. Dann ist nur noch ein Lichtkegel vorhanden, der von der gewölbten Bauchmitte sich ausbreitet und die Vorderseite des Gesichtes in eine schaurige Maske verwandelt.

Dann gibt es noch die pakistanischen Kurierfahrer, die auf ihrem Roller warten, mit einer ungefüllten Tasche auf dem Rücksitz. Sie parken vor einem Restaurant, vor dem Sie hoffen, dass es dasjenige sein wird, dessen Bestellung Sie austragen werden. Aber es findet keine Bestellung statt. Die Menschen sind heute satt. Auch hier ein Flimmern. Und die Möglichkeiten der Beschäftigung sind unendlich. Die Möglichkeiten, was es anzeigen könnte, sind unbegrenzt. Müssen sie auch sein, denn es wird heute keiner mehr bestellen. Gleichwohl muss der Fahrer in voller Montur und jederzeit zum Abfahrbereit dasitzen, schon alleine aus Gründen der Würde. Und jederzeit könnte die lebenswichtige Bestellung eingehen. Und wenn er sie verpasst, bekommt er eine schlechte Bewertung, was mit dem Karriereende gleichzusetzen ist.

Wenn die Menschen in die Scheibe starren, dann sind sie natürlich Zombies. Dieses Zombie-Dasein ist wie ein Stand-by-Modus. Sie sind dann nicht wirklich anwesend in einem starken Sinne. Sie können natürlich jederzeit zurückgerufen werden durch eine Verkehrssituation oder eine Anrufung. Wie immer, wenn die Moderne unsere magischen Vorstellungen realisiert, hat das nichts Magisches mehr. Es ist ganz pragmatisch und realistisch und vollzieht sich ohne jegliche Zaubereffekte und Beglückungen. Wie sollte es auch, wenn die Menschen leben müssen? Sie können ja nicht die ganze Zeit beglückt werden von ihrer Scheibe. Die Reisenden sind wirklich an einem anderen Ort. Sie verlagern einen Teil ihres Bewusstseins in eine andere Realität. Sie sind wie Schamanen, die in die Geistwelt fahren. Nur, dass die Geistwelt kein besonderes Ereignis darstellt, keine Erleuchtung bietet, sondern die absolute Normalität ist noch vor der alten, traditionellen, physischen Lebensrealität vor unserer Nase. Selbst die Geistwelt hat sich ausdifferenziert in unserer Zeit. Wir können in ihr alles Mögliche erledigen. Wir erledigen die Einkäufe, wir buchen Reisen und wir kommunizieren vor allem. Das hätten die Schamanen nicht gedacht. Letztlich ist der Flug in der Geistwelt nichts anderes als das Mind-Wandering, in dem wir uns ohnehin täglich zum Großteil der Zeit ergehen. Es ist nur eine weitere Verschachtelung dieser Seinsweise ins Virtuelle. Genauso wie der Zustand der Achtsamkeit uns aus dem Mind-Wandering herausholt, um uns für Gefahren in der physischen Welt zu wappnen, so können wir auch als Zombies die Augen wieder aufschlagen und unverzüglich zum Straßenverkehr zurückkehren. Die Kritik an den Zombies ist wie die Kritik an Hans-Guck-in-die-Luft. Sie hat eine lange Tradition und folgt stets einem ethischen Imperativ. Wobei sie eigentlich etwas unfair ist. Das ethische Ideal ist die ultimative Achtsamkeit, die niemand oder fast niemand erreichen kann und, so sagen es einige, auch überhaupt nicht wünschenswert ist. Die hiesige Realität, in der wir uns bewegen sollen, ist natürlich um vieles reicher; vor allem in kinesthetischen und olfaktorischen Dimensionen. Aber die Informationsdichte ist hier draußen einfach nicht so groß im Vergleich zu der unfassbaren Fülle, die in der Geistwelt erreichbar ist. Warum also nicht die meiste Zeit hier verbringen?

Ich habe den absoluten Pariser gefunden: mit hellbraunem Mantel, in anthraziter Hose, die deutlich über die Knie geht, mit schwarzen Lackschuhen, einem Hut, der perfekt zu dem leichten Mantel passt. Der rote Schal setzt den perfekten Kontrast. Er hat einen leichten Buckel. Er trägt natürlich ein Baguette und eine Zeitung in der Hand (warum auch nicht!) und sein Gesicht hat viel gesehen und ich bin froh, dass ich noch einmal, kurz bevor ich diese Stadt verlasse, den absoluten Pariser erblicken durfte.

Und dann betrete ich ihn, den kleinen Stadtgarten ohne Namen. Das Paradies, in dem alle Provenienzen nebeneinander in Einmütigkeit vereint sind. Es ist ein moderner Garten mit perfekt gemähtem Gras. Mit Schachtischen unter kleinen Arkaden, mit Narzissenbeeten und Schilf. Mit einzelnen Bäumen wie Zypressen und Flieder und anderen selteneren Baumarten. Es gibt eine kleine Fontäne. Und zu den Seiten hat man den Blick auf alle Architekturstile, die in dieser Stadt zu finden sind. Von der Klassik über verschiedene Stufen der Moderne und dazwischen das späte 19. Jahrhundert. Es sitzen hier viele Schwarze. Es gibt auch Kurierfahrer, die sich ausruhen. Und es gibt einen Trinkwasserspender. Der Klang der Straße, die gar nicht weit entfernt ist, ist absolut ausgelöscht. Es gibt Berberinnen und Araber und Weiße und Kinder und junge Mädchen und alte Frauen und alle liegen auf den Metallstühlen und sonnen sich. Es gibt keinen Hass in diesem Garten. Einer ist ultimativ photogen, ein etwa 50-jähriger schwarzer Mann mit einer Kofia, der aussieht, als wäre er der König dieses Jardins. Ich bin kurz davor ihn zu fragen, ob ich ihn fotografieren darf, aber dann finde ich das rassistisch und kann nicht begründen warum. Schade, oder? Während ich durch die Butterblumen streife und das Paradies wieder verlasse, fällt mir im letzten Blick auf, dass alle Menschen hier eines gemeinsam haben. Sie alle starren ausnahmslos in ihre Scheibe, die sie beleuchtet und die ihnen etwas zu bedenken gibt. Sie alle sind hypnotisiert von der Macht ihres Geräts und ich kann nicht beurteilen, ob dies alles zerstört oder alles erst ermöglicht.


Paris Triptychon: Die Touristen (Rechte Tafel). Während ich so durch die Stadt gehe und die Leute beobachte, ihre Bewegungen beobachte und ihre Ästhetik, wird mir immer klarer, dass das Wichtigste ist, nicht wie ein Tourist auszusehen. All unsere Bemühungen sollten darauf hinauslaufen. Ich weiß, dass ich sehr davon beeinflusst bin, dass ich gerade selbst Tourist bin. Aber mir erschließt sich nicht, wie diese Wahrheit weniger eine Wahrheit sein soll, wenn ich die Stadt wieder verlasse. Nein, wir müssen wirklich alles daran setzen, wie ein Chamäleon die Spur des Touristischen abzulegen. Das Touristische an uns ist unser Akzent zu dem wir nicht stehen dürfen, wenn wir einen Kaffee bestellen, weil wir sonst übers Ohr gehauen werden. Zu Recht, die Einheimischen haben ein Recht, uns übers Ohr zu hauen, wenn wir unseren touristischen Akzent nicht verbergen können. Wir sind die Eindringlinge, die von ihrer Kultur leben. Gleichwohl wir sie finanzieren durch unser Eindringen, gleichwohl sie schon längst untergegangen wären ohne uns.

Eine französische Touristin trägt ein Bündel um ihre Schultern, das aus Plüsch ist und ein Blumenmuster hat. Bei näherem Hinsehen entpuppt es sich als ihre kleine Tochter, die vom Louvre in die Knie gezwungen worden ist und nun im Schlafwagen zurück ins Hotel reist.

Das Mädchen, vielleicht 16, ihr Haar hat einen leichten Rotstich, hat diese typischen Chucks in schwarz und einen dunkelblauen Mantel, Stangenware. Aber es steht ihr einfach, weil sie ihr mit ihrem selbstbewussten, aber nicht übertrieben selbstbewussten Blick nach vorne blickt und sich freut in Paris zu sein.

Die Touristen sind das Unheil, das diese Stadt am Leben erhält. Sie sind das, was man sich weg wünscht, und ohne das diese Stadt verloren wäre. Sie würde zerfallen, nach wenigen Jahren schon. Nichts könnte man mehr bezahlen. Gleichzeitig würde niemand mehr etwas anschauen. Und wenn eine Kathedrale abbrennt und keiner sieht es, macht das dann ein Feuer?

Man hat eine Tribüne aufgebaut, damit sich die Touristen vor Notre Dame setzen können und die Geschundene während ihres Wiederaufbaus wenigstens ein bisschen in Ruhe beobachten können. Findige Musiker nutzen das und platzieren sich vor der Tribüne. Und die Touristen spielen mit und freuen sich, weil sie ohnehin nicht wissen, weswegen sie eigentlich hier sind.

Das Pärchen: er hat irgendwann in der Linie arabische Einflüsse, ansonsten ist er weißer fränkischer Franzose, hat eine Glatze, arbeitet bei der französischen Telekom und sie ist etwas bleicher, gallischer, hat rote Haare und eine gerötete Nase und man kann nicht sagen ob es vom Tränen kommt oder von einem Schnupfen.

Überhaupt habe ich den Eindruck, dass es die Touristen irritiert, wenn man sich nicht absolut konform verhält, wenn man nicht absolut den Weg der Masse geht. Sie schauen einen irritiert an und verstehen nicht, warum man am Rande stehen bleibt und etwas anscheinend Sinnhaftes tut. Für sie gibt es nur den Weg zur nächsten Sehenswürdigkeit.

Ich sitze in einer portugiesischen Patisserie, was ich erst merke, nachdem ich es google, weil ich bemerkt habe, dass das Croissant nicht französisch schmeckt. Und dann kommen natürlich die Deutschen herein. Fünf Frauen, kulturell beflissen, wie man sagt, Freundinnen der Kultur, von denen eine halbwegs auf französisch bestellen kann. Sie kennen die Gebäcke und können einander erklären, worum es sich handelt. Dann setzen sie sich und erkennen die Musik. Es ist I Say A Little Prayer von Aretha Franklin. Und sie wissen auch, dass in ihrem Lieblingsfilm eine Cover-Version davon gesungen wird, und nicht das Original. Und die Cover-Version sei auch schön, was ich bezweifle, aber ich sitze ja nur hier und ich schäsäme das Lied, das ich zwar auch kannte, aber nicht benennen konnte. Und ich wusste vor ihnen, dass es I Say A Little Prayer ist von Aretha Franklin, in der Original-Version. Und das Einzige, was mich davon abhält, zu erkennen, dass ich genauso ein blöder Tourist bin wie sie, ist, dass ich meine Identität nicht preisgebe. Noch wissen sie wahrscheinlich nicht, dass ich Deutscher bin. Aber das wird sich ändern in dem Moment, da ich mit starkem Akzent Päjeh Silwupleh sage und alle hören, dass ich kein Französisch kann.

Als Tourist bist du wie Teil eines Fischschwarms. Dein Schutz vor den Taschendieben besteht darin, dass ihr viele seid und dass es niemals so viele Taschendiebe geben wird wie Touristen. (Warum eigentlich?) Das ist jedenfalls dein einziger Schutz. Hinter jeder Ecke stehen sie und sind wie die Löwen auf der Pirsch. Wie die Löwen gehen sie zuweilen mitten durch die Menschen. Ohne Tarnung, ganz offen, zeigen sie was sie wollen. Und nur weil keiner weiß, wie man sie los wird und auch nicht den Mut hat, bleiben sie unbehelligt.

Die elegante Latina mit ihrem teuren Mantel macht Bilder von den Sehenswürdigkeiten und trägt einen leicht genervten Zug um die Lippen, der Ungeduld gegenüber ihrem Mann erkennen lässt. Sie hat es nicht geschafft einen Reichen Gutaussehenden zu bekommen, sondern nur einen Reichen. Und das macht sie fürs Leben unglücklich. Sie weiß nicht, dass sie noch unglücklicher wäre mit einem Gutaussehenden, der die ganze Zeit fremd ginge.

Das Beobachten ist keine leichte Angelegenheit. Man muss die Menschen anschauen, um beobachten zu können, und darf andererseits niemals zu lange hinschauen. Wer zu lange hinschaut, riskiert nicht nur einen Kommentar oder gar einen Angriff (ich bin paranoid). Er riskiert auch, dass das Bild zerfällt. Er riskiert seinen schönen Stereotyp. Er riskiert, dass das Fantasiegebilde, das er beobachtet hat, zusammenbricht. Und dann muss er von vorne anfangen. Nur, dann wird er ein zweites Mal hinschauen und wird wieder das Bild verlieren können. Und dies wird sich, wenn er nicht aufpasst, immer wieder und wieder wiederholen. Und am Ende kommt er bei dem raus, was er ohnehin schon weiß.

Viele Frauen zwischen 50 und 70 tragen jetzt goldschimmernde Jacken. Sie wissen nicht, dass das etwas ist, was eigentlich nur als Statement benutzen darf. Und so normalisieren sie diese Besonderheit ohne Not, alle machen also immer Statements ohne Not, genauso wie sie es vor 10 Jahren mit Leopardenmuster gemacht haben. Und die Subversion wird Konformität. Wir haben eine Normalisierung der Karens. Sie begegnen uns überall und jede von ihnen könnte jederzeit den Manager verlangen.

Man entwickelt Methoden, mit denen man die Einheimischen von den Touristen unterscheiden kann. Es bleiben zwei Klassen von Menschen. Wobei man nicht sagen kann, welches die übergeordnete Klasse ist. Für die Einheimischen spricht ihre Ortskenntnis und die Selbstverständlichkeit, mit der sie hier wohnen. Und für die Touristen spricht ihr Reichtum. Aber der Reichtum in der Stadt Paris zu wohnen, der Reichtum in einer Stadt zu wohnen, in die alle fahren wollen, übertrifft dies doch, oder nicht?

Die Unterscheidung ist auch nicht durch die Sprache möglich, denn die Hälfte der Touristen sind Franzosen und ich kann den Lyon-Akzent nicht vom Bretagne-Akzent unterscheiden.

Die drei Filipinos sehen aus wie eine Boyband. Aber könnte heutzutage nicht jeder Teil einer Boyband sein?

Die Latina mit einem viel zu kurzen Rock, Lederjacke, die ihre Zunge in die Backe drückt, zumindest sieht es so aus. Dann bemerke ich, dass die Wölbung nicht mehr verschwindet und lerne, dass dies ihre natürliche Gesichtsform ist.

Die Dummdreistigkeit der Touristen hat auch mit ihrer Gruppennatur zu tun. Die Aushandlung von Entscheidungen in Gruppenprozessen ist ineffektiv und funktioniert über Schwellenwerte. Sie stehen irgendwo herum, beraten halbherzig, was sie als nächstes tun wollen, wie sie verfahren wollen, da sie hier keinen Platz bekommen, weil sie zu viele sind, und schauen sich dabei einfältig an. Selten übernimmt einer die Initiative. Langsam kulminiert das Anschwellen einer Neigung und die Gruppe setzt sich schwerfällig in Bewegung. Dabei sehen sie immer etwas gestriegelt aus und tragen eine Ästhetik hinein, der nicht zum Ort passt.

Es gibt auch diejenigen, die schon Paris-Experten sind, die Touristen erster Klasse, die mit offenem Mund leicht genervt gar nicht fassen können, dass man ihnen im Weg steht. Gleichwohl haben sie keine Argumente, warum man sie bevorzugt behandeln sollte, unterscheiden sie sich von den anderen Touristen doch nur durch ihr geringfügig besseres Wissen von der Stadt, durch ein paar Erlebnisse aus früheren Aufenthalten, und die akkumulierten Zug- und Flugkosten, die sie fein säuberlich zu Hause in einem extra angelegten Ordner dokumentieren.

Es gibt unterschiedliche Strategien seine touristische Natur zu verleugnen. Die erste Strategie wäre, schneller zu gehen als üblich, sodass man sich von den Touristenmassen abhebt und aussieht wie einer, der etwas zu erledigen hat. Dabei sollte man aber nie hektisch wirken, als wolle man noch seine Bahn erreichen oder seine Guided Tour nicht verpassen. Man kann auch langsamer gehen, schlendern. Dann allerdings muss man sehr darauf achten, niemals mit Kopfbewegungen zu den Sehenswürdigkeiten aufzufallen, sondern wenn man sie sehen will, muss man mit Augenbewegungen seitlich hinschielen und hoffen, dass man dann genug sieht. Hier kann auch eine Sonnenbrille hilfreich sein. Bestimmte Accessoires sind aber in jedem Fall zu vermeiden. So zum Beispiel bedruckte Taschen oder alles, was man sich noch vor Ort provisorisch kaufen würde. Zu viel und zu große Rucksäcke, Regenjacken vor allem, sind verboten. Man darf weder begeistert wirken, noch darf man missmutig aussehen, wie einer, der erschöpft und enttäuscht vom Angebot ist. Wenn man fröhlich sein will, muss man authentisch und leichtfertig froh sein und wenn man missmutig sein will, dann muss man eine zielsichere Bosheit ins Gesicht legen. Niemals sollte man, wenn man auf sein Smartphone schauen muss, so aussehen, als würde man einen Weg ergoogeln. Am lustvollsten ist es, solche Bürgerdarsteller zu entlarven, ihre Methoden und Maschen zu erkennen und freizulegen, wie sie ihr Touristendasein unfreiwillig preisgeben, weil sie das Regelbuch des Inkognito nicht beherrschen.

Und dann gibt es noch die Schönheit, die nur durch ihr Make-up gehalten wird. Sie ist beeindruckend, alles an ihr perfekt. Doch sie trägt es wie eine Maske, und die Maske ist flüchtig. Sie weiß, wie viel Arbeit sie heute Morgen hineingesteckt hat in ihre Begehrlichkeit. Sie hat es für diesen Tag gemacht, und sie hat es sich verdient. Und durch das Glück, das sie heute erfährt, kann sie zeitweise vergessen, dass sie das Make-up heute Abend ablegen muss.

Und die Allerschlimmsten sind die Europäer, die mit pinken Baskenmützen nach Paris kommen. Die Französinnen dürfen das natürlich, und die Pariser dürfen das sowieso. Aber eine Italienerin oder eine Deutsche, die sich eine Baskenmütze anmaßt, ist nicht viel anders als ein Japaner, der mit Dirndl aufs Oktoberfest geht. Nur ist das Oktoberfest in seiner Selbstbeschreibung eine Kostümparty, und Paris ist das nicht.