einhundert improvisationen über das verstreichen der zeit. ein versuch, lyrik erzählerisch zu schreiben. ein corona-tagebuch ohne nabelschau. ein manifest einer ketzerischen kunstreligion. eine zärtliche liebesgeschichte. ein schläfriges fallen. klimawandel.

ansichtsexemplar

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texte von stephan pfalzgraf, zeichnungen und satz von jonas hansal, 100 Seiten.
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hier meine poetologie zu diesem text (auch im nachwort enthalten):

für den computerwissenschaftler ist ein künstler ein system, das seine eigenen bewusstseinszustände beobachtet. er versucht nicht, wie alle anderen, seine prozesse zu optimieren, sondern steht staunend vor ihnen und versucht sie abzubilden. so waren künstler schon immer. aber wie sie das tun, hat sich gewandelt: in der zeit der symbolischen kunst war der modus operandi ein anderer als in der klassischen moderne, der avantgarde, der postmoderne. und heute ändert er sich wieder.

daher ist die aufgabe eines modernen künstlers auch immer, herauszufinden wie man überhaupt noch kunst machen kann, wenn neue akteure die althergebrachten funktionen übernehmen. hier gibt es viel ähnlichkeit zur theologie. einst waren kunst und religion eins. und mit der stetigen ausdifferenzierung hat nicht nur die religion viele erklärungsfunktionen an andere wissenschaften abgegeben, sondern hat auch die kunst sich aufgespalten in design, kunsthandwerk, marketing undsoweiter.

was „echte“ kunst ist, hat sich zunehmend als das erwiesen, was diejenigen künstler tun, welche auf moderne abkürzungen verzichten. natürlich hatte diese bewegung seit jeher etwas elitäres, zumal in zeiten der massenkultur. doch das heißt nicht, dass man dieses projekt leichtfertig aufgeben sollte. das wäre so, als hätten die impressionisten einfach gesagt: gut, fotografie können wir nicht toppen, legen wir die pinsel weg und werden fotografen. brecht hätte auch filme drehen können, doch er entwickelte lieber davon beeinflusst das epische theater. ähnlich übrigens wie alan moore viele jahre später, der die neuerungen des kinematischen erzählens in der comic-kunst verwendete. und roy lichtenstein wiederum nimmt die bilder des comics und führt sie in die malerei. und wovon handelt das durch virtuelle welten unter druck gesetzte medium film in „the matrix“? vo virtuellen welten natürlich. nein, es steckt etwas durchaus rebellisches im beharren auf der kunst, wo auch immer ihr das wasser abgegraben wird. letztendlich ist es gar diese beschränkung, die sie am leben erhält und antreibt, denn sonst würde sie ja wie in früheren zeiten jahrhundertelang die gleichen bilder, harmonien und sätze produzieren. und das wiederum widerspricht dem selbstverständnis moderner gesellschaften.

womit wir beim vorliegenden werk wären. es gibt verschiedene strategien, um in der heutigen zeit die freiheitsräume der kunst zu erkunden. weil keine davon sich alleinige heilsbringerin erwiesen hat, wende ich mehr oder weniger alle an, um die vorteile der einzelnen strategien zu kombinieren.

technisch relevant ist die verwendung einer totalen rhythmisiserung der sprache. alle texte stehen in einem binären- bzw ternären metrum, das ich seines literaturgeschichtlichen balastes bereinigt habe. konkret heißt das, dass jambus und trochäus verschmelzen, weil es keine auftakte, zeilen und pausen mehr gibt. es handelt sich hier um eine verbindung von lyrik und prosa: der text ist rhythmisch, man liest ihn aber wie eine erzählung. in der bereinigung von allem auftakt-ornament ist der text konsequent modern, und er verzichtet auf alles sonderwissen, an dem schüler bekanntlich bei der versmaß-analyse scheitern: wer einmal den rhythmus gefunden hat, kann ihn konsequent bis zum ende verfolgen, über punkte und kommas hinweg. die texte an anfang und ende stehen dabei in einem zweiermetrum (jambus/trochäus), die inneren in einem dreiermetrum (anapäst/daktylus). diese vorgehensweise ergibt sich aus meiner musikalischen herkunft. dabei hat sie eher den charakter klassischer musik als des jazz, in welchem es eine mehr oder weniger feste time, dafür aber komplexere rhythmen gibt. die klassik dagegen zeichnet sich durch ausgeprägte agogik aus, wodurch die vergleichsweise simpleren rhythmen sich durch die relationen einzelner elemente untereinander, nicht durch ihren bezug auf ein globales tempo ergeben: genau so wie sich die sprechgeschwindigkeit mit dem lesefluss, der satzstruktur und der bedeutung der worte ändert, ja ändern muss, damit der vortrag nicht anfängt zu leiern. eben wie bei einer mozartsonate.

ein anderer wichtiger musikalischer einfluss ist die improvisation. die vorliegenden texte sind, wie dieses nachwort, nicht lektoriert und ausgearbeitet, sondern in einem rutsch niedergeschrieben. dieser ansatz hat seinen historischen ursprung im automatischen schreiben der surrealisten, und es ist nicht zu leugnen, dass hierdurch zuweilen auch surrealistische effekte enstehen. in meinem fall kommt er aus meiner tätigkeit als jazzmusiker. daher rührt die frische, spontaneität, aber eben auch die schroffheit und inkonsistenz der texte. wer improvisiert, nimm dies gerne in kauf. nicht weil die improvisation ein besserer, sondern ein ganz anderer zugang zur kunst ist als die komposition. die fehler und missgeschicke, die kleinen glitches einer improvisation sind nicht loszuwerden, sondern nachgerade konstitutiv für die positiven aspekte eines improvisierten werkes. wer sie ausbügelt, macht schon komposition – und meistens schlechte. ist die improvisation also das panazee für die moderne kunst? sie ist es schon deswegen nicht, weil sie überhaupt nichts neues ist. aber sie bringt möglichkeiten der gestaltung und einen rezeptionsmodus, der anders gerichtet und als spezifische methode zum erarbeiten eines gehaltes viel passender ist. ob ein abgedruckter text überhaupt improvisiert sein kann, ist hier die frage. denn gleichwohl man das speichermedium nicht mit der rezeptionspraxis verwechseln sollte, ist durchaus zuzugeben, dass ein improvisierter text am besten der kunstform performance entspricht, nach deren aufführung er in den weiten des äthers verklingen darf. andererseits ist auch die erinnerung nur eine art speichermedium, und so mancher musikstil, namentlich der bebop, wäre als typisch moderner stil ohne shellackplatten und die praxis des transkribierens von ihnen so nicht entstanden.

das improvisierende rhythmische schreiben findet seine formale struktur in der anlage als tagebuch von hundert seiten. diese beschränkung war von anfang festgelegt und ermöglichte ein arbeiten in protention und retention in bezug auf die außengrenzen des werkes. dadurch wird einerseits das bisher geschriebene immer wieder auf das aktuelle abgebildet und andererseits ist das ende immer schon im blick und muss ohne genaue planung, mit augenmaß angesteuert werden (während es auch handlungsmäßig noch nicht festgelegt ist, sondern sich im prozess entwickelt).

ein anderer ansatz zur bewältigung des grundproblems ist der rückgriff auf den ausspruch des novalis: die welt muss romantisiert werden! gleichwohl diese idee nun über zweihundert jahre alt ist, und die romantik vor allem als gegenbewegung zur entfremdungserfahrung der industrialisierung schlüssig wird, taugt er auch – entsprechend modifiziert – als gegenbewegung zur entfremdungserfahrung unserer zeit. natürlich muss eine bloße nachahmung der romantik heute wie reiner kitsch wirken. doch die romantik enthält bereits in ihrer anlage ihr antidot names ironie. diese und andere postmoderne strategien wie die kontrastierung von trivial- und hochsprache, doppelcodierung und meta-schichtung dienen dem selben zweck: die erarbeitung eines gehalts, der von vorneherein noch nicht feststeht. in genau diesem sinne ist das werk nicht mehr postmodern, weil es eben keine bloße spielerei und als interpretierbares werk greifbar ist.

der so entstandene text ist ein tagebuch des sommers 2022, also des letzten corona-sommers. er geht von den erlebnissen des autors aus, welche ein substrat bilden, das wie in einem computationalistischen erklärungsmodell keine große rolle für die phänomenologie des werkes spielt: es ist hiernach nicht das gehirn, das empfindet, sondern das bewusstsein, und das ist ein traum. bloß ein traum? nein, der einzige traum, der zählt. denn das system kann die außenwelt immer nur in seinen eigenen begriffen erfassen. dieses buch ist ein romantisierter, stilisierter, spontan erzeugter traum des kurzen lebens eines lyrischen ichs, welches seine eigenen existenzbedingungen mithilfe quasi-poststrukturalisitischer methoden erkundet; doch die sind selbstverständlich unzureichend: das zwanzigste jahrhundert ist nämlich vorbei.

reflexiv ist der text aber auch schon alleine durch dieses nachwort, was hoffentlich mehr angenehme verwirrung stiftet als aufklärt. und natürlich durch die zeichnungen von jonas hansal, die unter denselben prinzipien entstanden sind wie der text, den er auch gesetzt hat.

mannheim, oktober 2023


Das Tagebuch als Kunstform übt eine eigentümliche Faszination aus: Es befriedigt einerseits voyeuristische Triebe mit dem Versprechen, einen Einblick in einen Alltag zu bieten, während sich andererseits alle Beteiligten immer schon bewusst sind, dass es sich um eine Inszenierung handelt.

Diese Konstellation zu erkunden war die Grundidee dieses Projekts. Inwiefern ist es möglich, das täglich Erlebte einzubinden, umzuformen in etwas Lyrisches, es gar zur Blaupause eines Plots und zur Inspiration für ästhetische Reflexionen zu machen?

Sich ein Arbeitsritual von einhundert Tagen aufzuerlegen war die nächste interessante Aufgabe: Jeden Tag muss ein kleiner Text fertig werden und darf im Nachhinein nicht mehr grundlegen revidiert werden. Wie schlägt es sich z.B. in der Erzählung nieder, wenn der Autor eine Corona-Infektion durchmacht?

Außerdem war das Projekt eine gute Gelegenheit, die Wirkung eines der Sprache unterliegenden Silbenmetrums zu erkunden: Was verändert sich, wenn dieser Ryhtmus sich wandelt?

Das Tagebuch ist über Sommer und Herbst 2022 entstanden.

Bisher ist nur eine Online-Version verfügbar (eine physische Variante ist in Arbeit). Über den Pfeil am rechten Rand des Bildschirms kann weitergeblättert werden.

einen Teil der Texte habe ich im Sommer 2022 Live aufgeführt: