Ich denke mir das so: Stell dir vor, du lebst in einer Stadt, in einem relativ okayen Viertel, alles relativ anonym, dennoch kennt man sich natürlich. Es gibt joggende übergewichtige Allianzvertreter, zuspätgekommene Achtzigerjahre-Hippies, riesige schwarze Opas aus der Zeit der amerikanischen Besatzung, die immer einen coolen Spruch auf den Lippen haben, zum Beispiel wenn du deine Wäsche zum Waschsalon bringst und sie dir zurufen „Oh no honey, don’t run away from home!“, die Frau mit der schon immer etwas nicht gestimmt zu haben scheint bis du sie irgendwann direkt vor Penny auf der Straße sitzen und mit verschmiertem Kinn einen Erdbeerjoghurt essen siehst, wodurch sie wie ein absurder Vampir nach dem Biss wirkt, der „Scheiße-Mann“ der aufgrund seiner Alkoholkrankheit fast nicht mehr laufen kann, es aber trotzdem tut und bei jeder Kreuzung statt um Hilfe zu fragen ganz laut Scheiße ruft, bis ihm jemand über die Straße hilft, nicht ohne sich bei diesem dann über alle anderen Bürger dieses Scheißlandes zu beschweren, der vierzigjährige Breakdancer mit dem Geist eines 17-Jährigen der auf dem Asphalt jedem seine Show mit Ballettelementen zeigt; diese alle gibt es hier und sie stören nicht wirklich, sie sind die Bewohner dieses Viertels, sie nennen dieses Viertel nicht einmal prätentiös „Kiez“ als würde dadurch irgendwas besser gemütlicher oder cooler, sie leben ihr Leben, jeden Tag, auch wenn manche von ihnen auch mal mit einem Polizeiauto irgendwohin gebracht werden müssen, z.B. weil sie ein bisschen zu viel und zu laut Scheiße gerufen haben. Du fühlst dich hier wohl, das alles unterhält dich, du bist froh, dass es nicht so ist wie auf dem Dorf, wo jeder jeden kennt und alles über jeden weiß, sondern du lebst hier und trinkst deinen Kaffee bei Andi am Eck und machst deine Sachen, und jetzt stell dir vor, irgendeiner von diesen Leute entscheidet sich, dir auf die Nerven zu gehen. Einfach so. Ihm ist einfach langweilig, oder er entwickelt eine fixe Idee, und erwählt dich zu seinem Opfer. Diese Leute tun das ja jeden Tag, nur eben untereinander, du bist bisher nur davon gekommen, weil es eine soziale Barriere gibt oder weil du immer so distanziert bist oder weil du immer schnell weggehst, aber stell dir nur mal vor, wie schnell diese Barriere einbrechen würde, wenn auch nur einer von denen sich dazu entschiede, dir von nun an so richtig auf den Sack zu gehen. Zum Beispiel. Die Joghurtesserin erzählt dir nicht nur mehr im Vorbeigehen von ihrer großen Karriere als Hotelfachfrau, sondern fragt dich nach Tipps für den Laptopkauf und du bist ein bisschen zu freundlich und verkaufst ihr deinen alten unbrauchbaren Laptop für 100 Euro (sie gibt dir das Geld nicht) und sie bittet dich um den klitzekleinen Gefallen, da für sie Windows drauf zu installieren. Und dann Skype. Und dann Outlook. Und dann das Internet. Und dann WhatsApp. Und dann das ZDF und den Holocaust. Stell dir vor, der Scheißemann fragt dich jetzt jeden Tag weil du ihm einmal geholfen hast, und er stinkt fürchterlich weil er nie duscht und du hast ein schlechtes Gewissen, weil ihm niemand hilft, und du schaffst es einfach nicht ein Feindbild gegen ihn in deinem Kopf aufzubauen, weil du weißt, dass er hilflos und psychisch krank ist und er niemanden hat außer dir, den er täglich damit quälen kann, über jede verfickte Kreuzung zu gehen, was immer zehn Minuten dauert, weil er nur tippeln kann wie ein Kleinkind, aber er ist siebzig und du atmest schon durch den Mund, weil dir mal jemand gesagt hat, dass das gegen den Gestank hilft, aber du bekommst Paranoia weil du Angst hast, etwas Schlimmes zu einatmen, und egal wo du hinkommst ist immer der Scheißemann und sieht dich als Erster, und wenn du nach Hause kommst steht da schon die Joghurtfrau mit verschmiertem Kinn, die dich beschuldigt, dass du ihr Internet gelöscht hast, und der Ballettbreakdancer erzählt dir, dass seine Frau ihn verlassen hat und die Kinder mitnimmt und der schwarze Hühne ruft dir etwas nicht ganz so Witziges zu und kann mittlerweile gar nicht mehr richtig gehen, weil er schon so alt ist und überhaupt haben alle Gehprobleme, und dein Nachbar, der auch nicht duscht, will deinen WLAN-Schlüssel und Deutschland von der jüdischen Machtelite befreien und der andere Nachbar, der ein muskelbepackter Araber ist, klingelt bei dir, weil du ein einziges Mal ein bisschen zu laut gewesen bist und steht vor deiner Tür und nennt dich „Großer“ und du glaubst dass er dich töten wird weil du seine tiefe Hip-Hop-Stimme immer hörst wenn er auf dem Balkon sitzt und die Mitarbeiter seines Cafés runtermacht, und die tiefe Stimme vibriert in deiner Wohnung, obwohl das Fenster zu ist. Und wenn auch nur irgendeiner von denen dir wirklich auf den Sack gehen wollte, im Moment ist ihnen ja nur langweilig in ihrem Scheißleben, aber gesetzt den Fall, einer von denen, nicht alle, nur irgendeiner, würde sich dazu entscheiden, dir von nun an das Leben zur Hölle zu machen, ja… dann könntest du absolut gar nichts dagegen tun außer wegziehen, aufs Dorf zum Beispiel und da wäre alles noch viel schlimmer.