Musiker verbringen viele tausend Stunden ihres Lebens mit einem Prozess, denn wir „Üben“ nennen. Für eine Stunde aufgeführter Musik sitzt ein Musiker so unfassbar lange in einem Raum mit niemandem außer sich selbst, dass es von außen fast wie eine Torheit erscheint, ein Instrument zu lernen. Warum aber tun es dann so Viele seit Millionen Jahren? Die verblüffende Antwort ist: weil das Üben uns erst zum Menschen macht. Stephan Pfalzgraf nutzt diese nunmehr zwanzigste Ausgabe seiner Reihe „Die Lösung“ um dem seltsamen Phänomen auf die Spur zu kommen – indem er es öffentlich praktiziert. Er tritt den Beweis an, dass dieser fast meditativen Tätigkeit zu folgen auch für Zuhörer hochinteressant sein kann und eine philosophische Tiefe hat. Dies tut er nicht nur, indem er möglichst musikalisch übt und sein Tun kommentiert, sondern auch auf Zuschauerfragen eingeht und den ein- oder anderen Tipp für musikbegeisterte Laien hat.

Stephan Pfalzgraf, Julius Steyer und Anastasia Churbanova am Klavier.


Das Üben ist das leben. Der Übende lebt, die anderen vegetieren. Weil Leben, insbesondere ein sinnvolles Leben, nur dasjenige genannt werden kann, welches, mit Sinnüberschüssen angereichert, wert ist, der versuchung des suizides und des sprungs ins religiöse (wie camus die beiden alternativen nennt) zu widerstehen. Der suizid wäre demnach die einfache erkenntnis der sinnlosigkeit des lebens und seine folgerichtige beendigung. Der sprung dagegen ist der die unsrige art erhaltende, fast schon evolutionär zu nennende mechanismus, der die grundverfassung des menschlichen denkens bildet: wir umgeben uns mit angenehmen und weniger angenehmen illusionen, welche das weiterleben verlangen und nahelegen. Dies also wäre das sogenannte religiöse, wobei der begriff hier viel weiter gefasst ist: man könnte es auch das esoterische, oder besser das ideologische nennen. Diese geisitgen immunsysteme (um mit sloterdijk zu sprechen) schützen uns gegen die harten fakten der sinnlosigkeit, welche tagtäglich, ja sekündlich auf uns einstürmen; nicht wenigen kann man diesbezüglich eine autoimmunerkrankung attestieren, welche letztendlich also tödlich verläuft. Mit Dieser beschreibung des sprungs als immunsystem hat sloterdijk auch den negativen nimbus der illusionen camus gegenüber befreit. Beide allerdings votieren für einen dritten weg, welche bei Camus die Revolte heißt, bei Sloterdijk das Üben. Bei camus heißt es erstmal nur so viel wie:“lebe so viel und intensiv wie möglich“ und ist damit etwas anders gefasst, lässt sich aber dennoch bestimmen als eine Lebens-Kunst, als das Üben in absoluter Achtsamkeit (denn nur ein achtsam erlebtes Leben ist ja überhaupt eines), gleichzeitig aber hat es auch eine hedonistische komponente. Man kann sich demnach auch im saufen und fressen üben. Aus Camus folgt daher der schluss, dass man im grunde den optimalen mittelweg zwischen möglichst langem und intensivem leben wählen sollte; entscheidend dabei ist aber eigentlich nur das mindset der revolte: das aushalten der tatsache dass unser leben keinen sinn hat, immer und immer wieder; nicht, wie gerne fälschlicherweise behauptet wird „seinem leben selbst den sinn zu geben“. weisheit könnte man nach camus den zustand nennen, in dem man die träume von einem zufriedenen glücklichen leben aufgibt zugunsten einer sanft stechenden, variantenreichen melancholie, die immerhin ausweis der tatsache ist, dass man sich über die fundamentalen unstimmigkeiten der existenz im klaren ist. Sloterdijk interresiert sich mehr für die übenden Außenseiter-Eliten, also diejenigen, die aus dem Fluss des sozialen Lebens heraustreten und sagen: Es ist nicht genug. Du musst dein leben ändern. Diejenigen, die einen Lebensbereich wählen und hier ein übesystem einrichten, welches sie ohne rücksicht auf den eigenen körper verfolgen. Die auswahl kann auf so ziemlich alles fallen. Es gibt die Hungerkünstler, die asketen, welche sich im nicht- tun üben, die akrobaten, welche sich die mühelosigkeit des unmöglichen antrainieren, die rhetoriker, welche mit kieselsteinen im munde gegen die brandung des attischen meeres anbrüllen, die sitarspieler, welche ihren kopf an einem seile befestigen, wodurch sie beim einnicken durch den harten zug des seiles wieder unsanft in den übemodus zurückgebracht werden; die kampfkünstler, welche nackt im schnee auf einem bein den einfachen schlag zum millionsten mal iterieren, die meditierenden mönche aller coleur, die sich in verschiedenen techniken den ruf einhandelten, sie kämen der erleuchtung so nahe, dass sie zu schweben begännen. Gelegentlich oder regelmäßig kehren nach dieser vorstellung diese Außenseiter-Eliten in die Gesellschaft zurück und ziehen sie durch den bloßen Glanz der Großartigkeit ihrer Errungenschaften ein stück weit nach oben; finden nachahmer, inspirieren, rekrutieren neue adepten, lassen ihre ideen langsam in die gesellschaft der trottenden masse diffundieren.

Den musikern und den musiklehrern war schon immer klar, was den frühen schülern noch nicht dämmert: wer einen fortschritt beim üben sehen will, muss SICH verändern, kann nicht einfach nur tonleitern üben. Vermutlich ist es nicht die tonleiterübung, die den menschen ändert, sonder die zuliebe der tonleiterübung veränderte einstellung, welche die geläufigkeit ermöglicht. das jahrhundertealte versprechen einer übung, die die psychoanalytisch brisante introspektion, den blick ins unbewusste, ersetzen soll, hatte und hat immer noch ein große anziehungskraft. Aber die Beispiele marodierender mönche, faschistischer japanischer zen-Meister, neoliberaler Silicon-Valley-meditierer, ganz und gar nicht erleuchteter New-Age-Retreater, lüsterner gurus, die sich über geheime tunnel in die umkleiden ihrer adeptinnen schleichen sind leider zu zahlreich, als dass man hier von einer positiven empirie sprechen könnte. Die antwort der beschuldigten lautet selbstverständlich ähnlich wie die eines Homöopathen, der nach nichterfolgen der heilung auf die Globuli-einnahme eine sogenannte „Erstverschlimmerung“ attestiert: Der menschliche geist sei so korrumpiert und fehlerhaft, dass die übenden ihre studien eben hätten intensivieren müssen. Nun, es wäre wohl eher an der zeit, den nimbus der moralischen überlegenheit der geübten freimütig über bord zu werfen. Der ursprung dieser aura der Güte hat aber auch mit derjenigen der exzellenz zu tun: die ineins-setzung des guten mit dem guten, also des hochwertigen mit dem gütigen, geht bekanntlich mindestens auf platon zurück.
Und die beeindruckenden fähigkeiten der hochseilartisten zwischen den world-tradecentertürmen, der fakire auf dem nadelbett, der konzertpianistinnen mit den nahezu unsichtbaren händen sind ja real und beobachtbar, und der gütige, ja schelmisch wohlwollende blick der mühelosigkeit, der mediokritätsverachtung ist in vielen dieser sparten fast schon obligatorisch.

Warum nun also ist der übende erst ein richtiger mensch, und warum fehlt dem nicht-übenden etwas? Als studiertem musiker kann es einem passieren, dass man ganz vergisst, dass etwas extrem unwahrscheinliches den eigenen alltag bildet: das tägliche stundenlange alleinsein mit einer repetitiven tätigkeit. Was in der massenkulturellen gesellschaft als „entfremdung“ empfunden wird, ist heute weniger die marxsche repetitive arbeit am fließband, sondern gerade das nicht-haben einer motorischen tätigkeit, die als sinnhaft erlebt wird. Wir denken an kleinkinder, deren in-der-welt-sein zunehmend aus dem nicht sehr motorischen herumwischen auf flimmernden led-oberflächen besteht, an bullshit-jobs, deren letzte motorische komponente das abhaken von listenpunkten und eintragen von messwerten ist, an das entwerfen von werbe-kampagnen für werbebildschirme auf werbeveranstaltungen. Es kommt also durchaus darauf an, welche einsamkeitstechniken der mensch benutzt; und in einer welt der zunehmenden koordinierten kognitiven arbeit erscheint das üben fast als rettende zurückdrängung der entfremdung. Ob es dies leisten kann, sei dahingestellt. Eine renaissance des übens kann jedenfalls ohne probleme konstatiert werden: nur ist es unter den prämissen der postmodernen massenkultur natürlich meist ebenso entfremdet gerade dadurch, dass es ob seiner nichtfundierung in verbindlichen systemen, der jederzeitigen abbrechbarkeit, ebenso zur entfremdung bezutragen scheint. Nicht umsonst sind die parodien über yoglehrerinnen zahlreich, berichten die rückkehrer vom meditations-retreat über eine unerträgliche lautstärke der heimatwelt, die sie natürlich dennoch nicht verlassen würden, erscheinen makabere begriffe wie rainbow-valley für die todeszone des mount-everest, in dem sich die bunte hochleistungs-wanderkleidung abgestürzter extrem-touristen sammelt, trotz ihres zynismus als passende beschreibung unserer wirklichkeit.

Eines der hochgradig grotesken phänomene dieser wirklichkeit ist das moderne coaching-system. Es bietet uns einen guten anlass über ein randständiges aber gleichsam notwendiges phänomen des übens zu sprechen: das des trainers. Ersteinmal ist der trainer, oder lehrer, wie man ihn zu früheren zeiten nannte, für den schüler meist unverzichtbar, mildert er doch das nichtvorhandensein von selbstverständlichkeit dessen, was zu üben ist, ab. In vorigen zeiten war die forderung des könnens, das beim lehrer selber liegen müsse, noch viel präsenter und machte seine aura erst aus; dies hat sich, wenngleich es wohl nie wirklich konsequent eingefordert wurde – wer hätte sich getraut, den guru aufzufordern, einmal quer durch den raum zu schweben – hat es doch abgenommen: jürgen klopp und thomas tuchel waren in ihrer aktiven zeit keine messis, und von messi oder ronaldo erwarten experten keine trainer höhenflüge. Ein ulli wegner musste seinen schützlingen möglichst laut ins gewissen brüllen, nicht aber selbst erfolgreicher profi-boxer sein. Diese ausdifferenzierung des trainer-daseins als desjenigen, der weiß, wie es geht, es aber nicht notwendigerweiße können muss, der die fehlende motivation des übenden durch seine autorität überbrückt, findet im zeitgenössische coach seinen abnormen höhepunkt: die heutige welt glaubt der präsentation dieser scharlatanerie-virtuosen, sie fordert von ihnen nichts ein außer einer guten show. Ein guter life-style coach hat natürlich eine geschichte des scheiterns anzubieten, aber überwunden hat er dieses meist nicht, indem er die firma wieder auf die beine gebracht, sondern indem er ein erfolgreiches coaching-enterprise gegründet hat. Dieses sich selbst an den schnürsenkeln aus dem sumpfe ziehen hat wieder gewisse ähnlichkeiten mit der grundidee des übens: auch das üben ist ein „sich selbst aus dem fluss der widerlichen gewöhnlichkeit normalen lebens – ziehen“, jedoch mit den mitteln der meist motorischen wiederholung, während der coach mantras und sinnsprüche anbietet, die den punkt der langeweile niemals erreichen dürfen, sonst entfolgen die adepten dem guru ohne mit der wimper zu zucken. Der übende dagegen beginnt erst mit dem einsetzen der langeweile; erst da, wo es (zumindest mental) wehtut, das weiß jeder profi, tritt veränderung ein. Insofern ist der coach auch eine art cheat-code für den übenden. Wo der übende die langeweile nicht mehr aushält, wird er schwach und greift zum mentalen schokoriegel des coaches, bei dem die muskelaufpumpenden steroide oder vitamin-D-pillen bekanntlich bereits in der video-beschreibung verlinkt sind. daher expliziert die ausgeburt des modernen coachingwesens auch das wesen von weisheit, welches wir oben versucht haben zu redefinieren. Weisheit im alten sinne ist nämlich, das wird einem wachen übenden zunächst schmerzlich, dann befreienderweise bewusst, nichts als ideologie zur macht- und nimbuserhaltung des lehrers. Wie zizek amüsant deutlich gemacht hat, kann ich mithilfe von weisheit jeglichen sachverhalt rechtfertigen: gegensätze ziehen sich je nach bedarf an oder stoßen sich ab, und die zeit ist entweder reif oder man kann nicht gegen den wind pinkeln. Hermann hesses zugegebenermaßen inspirierende meister-schüler literatur wirkt heutzutage an manchen stellen wie ein päderastentraum. Und über das katholische messdienerwesen sprechen wir in diesem zusammenhang lieber gar nicht. In einer welt, in der jegliches wissen und widersprechende ansichten nur einen klick entfernt sind, in der steel-manning zur tugend erhoben wird, hat weisheit einfach keinen platz mehr. Das frühere als notwendig betrachtete überwinden des meisters nach durchstandener jahrelanger tortur, welche der schüler in einer stockholm-syndrom-artigen rationalisierung als fürsorge umdefinierte, kann heute nach der ersten stunde durch einfaches googlen der lehrerlichen ratschläge erfolgen. Daher ist die umwandlung des meisters in einen trainer fast zwangsläuftig eine folge der wissensgesellschaft. Die bewegung hin zum coach lässt jedoch fast ein nihilistisches sozialkunstwerk der entkörperlichten, geglätteten kognitiven tätigkeit entstehen. Schon in den letzten jahrzehnten wurde das trainerdasein durch die pokemon-reihe in höchste virtuelle ehren geführt. Und In der gegenwärtigen phase gesellschaftlicher entwicklung, in die wir gerade eintreten, in der kognitive arbeit durch künstliche intelligenz immer weiter zurückgedrängt wird, sind es die User, die die algoritmen traineren, nicht umgekehrt. Nur wird auch die erwachte AGI, die menschengleiche künstliche intelligenz dem menschen nichts als sinnsprüche bieten können. Vielleicht ist das üben also die bastion des widerstandes gegen die entfremdende vergemütlichung unseres lebens. Also: Ab an die instrumente.