Eine der traurigsten Geschichten, die mir in letzter Zeit passiert ist, ist die folgende: Mein Nachbar ist der talentierteste Influencer der Welt. Er baut nutzlose Maschinen, die ihm z.B. die Schuhe anziehen oder ihm einen Kaffee zubereiten, oder durch einen Domino-Effekt ganz viele interessante Phyiksachen zeigen, alles mechanisch und lustig. Das ist aber nicht das Besondere, denn sowas gibt es ja schon. Was ihn einzigartig macht, ist, dass er sich derartige Fähigkeiten alle sechs Monate neu antrainiert. Alle sechs Monate erstellt er ein neues Profil und macht etwas, was er vorher noch nicht konnte, und immer ist es eine komplett nutzlose Fähigkeit, die niemandem hilft. Davor war er zum Beispiel ein Nunchaku-Master. Er hat wochenlang das Nunchaku trainiert und damit Kunststücke gelernt, die, richtig gefilmt, aussehen wie eine abgefahrene Ninja-Kraft. Solche Sachen wie Pfeile in der Luft abwehren und Ziegelsteine zerschlagen und diese Nunchakus um den Kopf wirbeln lassen undsoweiter. Und davor war er Speedrunner, das heißt er hat Rekorde aufgestellt im Schnell-Durchspielen von Computerspielen wie Super Mario Bros (er hat sich natürlich eher in Nischen-Spielen wie Psychonauts oder System Shock 2 hervorgetan, weil man da schneller erfolge vorweisen konnte). Davor hat er akrobatische Kunststücke mit Gymnastikbällen vollführt (er setzte sich z.B. eine Brille mit den Füßen auf, während er auf dem Gymnastikball lag). Davor hat er eine absurde Persona gespielt, einen Mann, der u.a. in einem Kaufhaus ein Plädoyer für den Stuhlgang hält. Davor hatte er eine große Youtube-Gameshow, bei der japanische Mädchen je zu zweit ein Glasrohr in den Mund nehmen und pusten müssen und in der Mitte ist eine Kakerlake und eine gewinnt. Davor machte er so Remi Gaillard Pranks, wo er sich mit einem E-Bike eine Verfolgungsjagd mit der Polizei lieferte. Was er davor gemacht hat, weiß ich nicht, aber sicher etwas Ähnliches. Wenn ich ihn im Flur traf, erzählte er mir immer von seinem neusten Coup und wie er schon wieder hunderttausende Follower hatte. Und ich fand es am Anfang interessant, aber dann hörte ich ihn morgens einmal durch die Wohnungstür seine Wohnung abschließen. Er brauchte dafür dreißig Minunten. Immer wieder kehrte er hektischen Schrittes zurück, ging nocheinmal hinein, schien etwas zu überprüfen, schloss wieder ab, wartete, schloss nochmal ab. Das ging wochenlang so. Schließlich brauchte er bis zu sechzig Minuten dafür, das Haus zu verlassen. Ich überlegte, ihm Hilfe anzubieten, aber ich tat es nicht. Ich setzte mich hinter die Wohnungstür und hörte minutenlang zu. Vermutlich habe ich das, was er hat, nur seines ist vor, und meines hinter der Wohnungstür.
23. September 2024
Kommentare von stephan