Das Stadtklimpern vermischt sich mit der Musik aus meinen Kopfhörern. Ich höre, wie Lutoslawskis Stakkatos von einer Hupe eines Medikamentenausliefers imitiert werden. Das Grundrauschen der Schleuse dieses Kanals liegt noch unter den brummenden Harmonien, die Stimmen von Passanten lockern das Latein der Sänger. Ist das eine Pauke oder hat jemand die Tür eines Lieferwagens zugeschlagen? Jeder trägt Kopfhörer oder AirPods. Unsere Individualmelodien werden umrahmt von der Stadtmelodie, der wir nicht entfliehen können, auch nicht mit Noise Cancelling. Das ist der Zwang, dem wir ausgesetzt sind, der uns als letzter noch vereint und unsere Playlist ist der Dijon, den wir ihm heimlich beigeben. Und natürlich ist der Klang aus unseren Kopfhörern nur eine Metapher für den Klang aus unseren Köpfen, den Gedankenstrom, der ohnehin alles unterspült. So bilden sich die Kaskaden der verschiedenen Ebenen einer Klangwelt, die unsere Realität heißt.

Gutes Stadtdesign. Gute Regierung. Gute Sozialität. Gute Nachbarschaft. All dies muss uns vor allem dienlich sein beim Warten. Das Warten ist die menschliche Grundkonstitution. Überall stehen und sitzen sie. An die Mauer gelehnt, rauchend steht der ärmliche Obdachlose mit seiner Baseball Cap. Auf der Bank am Kanal sitzt der frischgeschiedene 60-Jährige und starrt ins Wasser. Daneben am Wasser sitzen die jungen Perserinnen und essen Käse und Baguette. Auch sie warten auf etwas. Der Wartezustand ist der Zustand, in dem beim Menschen die Grundkonstitution des Wartens auf den Tod explizit wird. Wir sehen den Menschen an und er bemüht sich dabei gut auszusehen. So ist die Coolness in die Welt gekommen. Die Coolness ist der Gestus, der sagt: Schau ruhig her, es macht mir gar nichts aus zu warten. Ich strahle aus, ohne zu müssen; ich bin nicht verwirrt durch die Tatsache, dass ich nicht weiß, wie es weitergeht.

In der ganzen Straße wird nur eine einzige Ware angeboten. Hochzeitsmode. Nur ganz selten gibt es mal eine Apotheke. Ansonsten gibt es nur Herrenanzüge und Frauenbrautmode. An den Eingängen stehen die Besitzer und wachen darüber, wer den Laden betritt, damit niemand die kostbare Billigware stiehlt, deren Preise bei 40 Euro beginnen und dann bis ins Unendliche schießen. Seltsamerweise haben die Besitzer selbst nur selten diese Anzüge an und sehen eher aus wie Kioskverkäufer. Anscheinend kauft ganz Frankreich hier seine Brautmode. Und wenn man heiratet, muss man vorher als Ritual einen Trip nach Paris buchen, wo man zunächst von diesem Herrn eingelassen wird und sich dann beraten lässt, um den perfekten Anzug zu finden.

Die „Deux tons“ der Franzosen sind viel diverser als die deutschen Martinshörner, welche nur die Quarte kennen. Hier gibt es die große Sekunde, die Quinte und sogar eine kleine Sechste habe ich schon gehört. Und ich würde mich nicht wundern, wenn mir eine Oktave oder Terz unterkäme. Was mich aber überraschen würde, wäre ein Tritonus oder eine Septime. Die Dissonanz behagt den Franzosen genauso wenig wie den Deutschen.

Die sogenannten taktilen Bodenindikatoren, die Noppen, die man für die Blinden auf die Pflastersteine gemacht hat, liegen ganz verstreut herum, sodass man, wäre man blind und würde versuchen, mit dem Stock zu ertasten, wo man stehen bleiben soll, verrückt werden müsste. Das liegt daran, dass hier vor einiger Zeit Bauarbeiten waren. Die Straße wurde neu gemacht und die Pflastersteine und Fliesen wurden entfernt, herausgenommen und danach wieder unsachgemäß eingesetzt, sodass die Muster nun ganz erratisch sind.

Überall auf der Welt gibt es Bars, und überall auf der Welt muss der Barbesitzer mal Hand anlegen. Hier ist einer, wie aus dem Buche, mittleres Alter, leicht ergraut, keine besondere Kleidung, leichter Bierbauch. Und er versucht, ein braun-beiges Segel an einer Stange anzubringen, vielleicht als Sonnen- oder Regenschutz, vielleicht als Schutz vor herunterfallenden Gegenständen von der Baustelle des vergerüsteten Gebäudes. Dass wir in Paris sind, sieht man daran, dass er dabei einen Aperol neben sich stehen hat. Das ist der kleine Unterschied.

Wenn man Taschen der Ästhetik in einer sozialen Umgebung schafft, dann bewirkt man dadurch, dass die Menschen ästhetischer und damit qualitativer leben. Das kann man in Paris sehr schön beobachten. Dass sie dann andere Tugenden vernachlässigen, ist nicht weiter problematisch. Viel schwieriger ist der Sachverhalt, dass sich bestimmte Ästhetiken herausbilden, die lächerlich wirken. Es bilden sich Schulen heraus, Moden, deren Beherrschung nur wenigen gelingt. Oder besser gesagt, wem die Beherrschung zu gut gelingt, der verliert. Gleichwohl: wem sie gar nicht gelingt, der verliert auch. Es ist ein bisschen wie der Unterschied zwischen Kunst und Kultur.Man sieht in der Stadt sehr viele Leute, die dieses Spiel nicht beherrschen. Sie tragen Mäntel und Schals und vapen und sehen aus wie Filmschauspieler, aber dann doch nicht so elegant, doch nicht so charismatisch, und zu jung. Es erinnert mich ein bisschen an 19. Jahrhundert, als es noch keine Jugend gab und alle jungen Menschen aussehen sollten wie alte. Sie ließen sich Bärte stehen und wirkten generell immer ein bisschen deplatziert. Auf diese Art und Weise sind hier sehr viele Menschen deplatziert. Sie machen sich lächerlich. Es gibt dieses Phänomen in jedem Milieu und in jeder Mode. Selbst in den unteren Schichten kann nicht jeder wie ein echter Gangsterrapper aussehen. Und die jungen Sorbonne-Studenten können nicht alle wie Timothée Chalamet aussehen. Es gibt einen Zwischenweg, der mit Schlichtheit zu tun hat und Individualität. Man kann das schaffen durch genuin kreative Entscheidungen. Das muss nicht immer gleich der Hauptgewinn sein. Der ist doch gar nicht nötig. Es geht nur darum, nicht in die Falle zu tappen, die die Ästhetik dir stellt.

Ich komme bei einem Taxidermisten vorbei, einem Tierpräparator, und wundere mich wieder einmal, dass so etwas existiert. Ja, dass hier alle bekannten Tierarten vertreten sind. Aus dem Schaufenster grunzt mich ein Ferkel an, und am Kronleuchter hängt ein Waschbär in neckischer Pose. Sie verstehen Ihr Geschäft hier gut, wie überall in Paris. Und man sieht nirgendwo die unschönen Fehler, die Amateurjägern passieren, wodurch die präparierten Tiere wie Zombies aussehen, deren Haut und Fell im Abfallen begriffen ist, mit Narben wie Frankenstein. Und selbst hier haben Sie eine modern gekleidete junge Pariserin an der Kasse, der ich zutraue, Veganerin zu sein. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob hier ein moralischer Widerspruch vorliegt oder nicht, und habe auch nicht vor, es zu tun.

Besonders interessant ist es, in Paris die schwarze Bevölkerung zu beobachten. Auch hier gibt es, so vermute ich, alle sozialen Schichten, vom Geschäftsmann, der ein bisschen zu perfekt angezogen ist und demnach eigentlich als Model besser aufgehoben wäre, über den Soldaten, der mit seiner Patrouille schwer bewaffnet durch den Louvre schlendert und sich einen Seitenblick auf eine schöne afroamerikanische Touristin nicht verkneifen kann (deren Erwiderung ich beobachtet habe, er aber nicht), bis zur Putzfrau, die ein Bündel mit Decken auf dem Kopf transportiert, was eine polnische Putzfrau in Deutschland niemals tun würde und was vielleicht die Tradition der Wolof oder Bambara verrät, aber das habe ich gegoogelt.

Das erste Erblicken von Hundescheiße macht einen aufmerksam für andere Flecken Hundescheiße in der Nähe. Dieses Stückchen bleibt mir besonders in Erinnerung, weil es perfekt geformt ist, wie ein Hexagon. Und in der Mitte hat es ein Nike-Logo. Jemand hat es unfreiwillig ausgestanzt und mit dem nächsten Schritt wieder auf der Straße platziert. Und jetzt liegt es da und sagt jedem, der vorbeikommt und es sehen will: Just Do It.

Eine etwa 50-jährige Thai steht in Steppjacke an der Straße und spricht konzentriert etwas vor sich hin, während sie die Finger ihrer angespannten Hände konzentriert aufeinander presst. Es ist eine buddhistische Übung, ein Gebet, das ich aus einem Youtube-Video kenne.

Sie hat ihr Fahrrad schon abgestellt, die erstaunlich schlanke, 53-jährige Französin, mit den schwarzen Jeans, in der sie einen Hintern wie eine 23-Jährige hat. Wodurch sie auffällt, ist ihr komplett verspiegelter Retro-Fahrradhelm, in dem sich alles um sie herum wiederfindet, was so außerordentlich ungewöhnlich ist, dass ihr alle Umstehenden zu diesem perfekten Accessoire gratulieren müssen. Wie kann man in Würde auftreten, nachdem die Jugend vorbei ist? Sie zeigt es uns allen.

Diese Boulangerie hat gerade geschlossen und die Mitarbeiterinnen beginnen mit dem Aufräumen und schließen das Geschäft. Sie heben die Polster an und finden selbst hier noch eine Beschäftigung. Ich sehe dies von draußen und beim nächsten Schritt sehe ich, dass der Lieferanteneingang offen ist und dass auf dem herausgehobenen Backblech etwa 15 frische Baguettes ausdampfen. Ich schaue mich um, lege meine Tasche und meinen Schirm draußen ab, sodass sie mich nicht stören und verraten. Ich sehe mich um und gehe langsam hinein, immer mit dem Gedanken, dass ich ja fragen kann, ob der Laden noch geöffnet hat. Doch niemand sieht mich und ich beuge mich herunter, um ein Baguette anzufassen. Doch ich sehe am Dampf, wie heiß es ist und dass ich mir die Finger verbrennen würde. Also streife schnell einen Handschuh über, greife mir das Baguette und zwinge mich, nicht zu schnell hinauszugehen. Dann nehme ich meine Sachen, die draußen stehen, und suche das Weite.

Eau du Robinet! Selbst die einfachen Dinge klingen in dieser Sprache, als wären sie von Dichtern erdacht. Drei Buchstaben, wo man im Deutschen nur einen verwenden würde. Man denkt im Französischen immer die Schrift mit, wenn man spricht. Würde man es auf Deutsch transkribieren, es klänge wie eine Parodie.

Die Betrachtung und Erkenntnis von Sehenswürdigkeiten folgt einem seltsamen Muster. Beim ersten Mal ist es eine leichte Faszination, die sich ihrer selbst bewusst ist und die von sich ein wenig enttäuscht ist. Schließlich sind der Sehenswürdigkeiten viel zu viele. Beim zweiten Mal dann bemerkt man dasselbe Gebäude mit einem Gefühl des Du-schon-wieder und ist überrascht von der eigenen Unbeeindrucktheit. Man muss diesem Gefühl entgegenstehen und sich bemühen die Spannung auszuhalten. Es bringt natürlich nichts sich die romantische Verzauberung zu wünschen, aber man kann die Arbeit tun, man kann den Blick konsequent auf die Ornamente richten, sein Formverständnis überprüfen, sich Fragen stellen. Es ist also nur der Weg der Rationalität in der Lage mit dem Phänomen umzugehen. Die wirkliche Begeisterung für ein Gebäude entsteht nicht in diesem Moment. Sie wird erzeugt durch die Aushandlung, durch das Erzählen von dem Gebäude, durch das Erörtern seiner kunsthistorischen Signifikanz, ganz gleich in welch einfacher Sprache. Dann kann man, wenn man das Gebäude beim nächsten Besuch wieder zum ersten Mal sieht, tatsächlich so etwas wie Begeisterung empfinden. Dann stellt sich genau das Gefühl ein, das man sich beim ersten mal gewünscht hatte. Aber natürlich bleibt auch dieses unverfügbar. Beim vierten Mal wird es vielleicht schon wieder verschwinden, oder es wird sich intensivieren, oder die Beziehung zu dem Gebäude wird eine Art Ehe, die von Liebe, Hass und Freundschaft gleichermaßen geprägt ist.

Der elegante Mann mit den zurückgegelten Haaren tritt dem Boulanger mit den frischen Baguettes und der Schürze aus dem Weg. Er tut so, als würde er gleich die Straße überqueren müssen, wird es aber nicht tun. Er trägt elegante schwarze Schuhe, einen schlichten blauen Mantel, seine Haare zurückgegelt, seine Brille ist bernsteinmarmoriert. Er trägt eine schwarze Stofftasche und raucht ganz elegant. In der Rechten unter der Tasche hält er eine Bibel. Seine Gesichtszüge sind markant und leicht gebräunt. Während er so steht, machen sich zwei Mädchen daran, ein TikTok-Video aufzunehmen, was er mit einer einzigen Geste Einhalt zu gebieten versteht. Er möchte ihnen Vernunft einreden, denn so etwas kann man nicht vor einem Gotteshaus tun. Diese Kirche, die Barock und Klassizismus vereint, wird von der Piusbruderschaft besetzt, welche sich gegen den ihrer Meinung nach zu liberalen Vatikan wehrt. Schöne, charismatische Männer wie er sind der Grund dafür, warum ich nicht mehr an Weisheit glaube. Die Meister haben in unserer Zeit bewiesen, dass sie nur Scharlatane sind, dass ihre Autorität ein Machtgebaren ist, welches man unter keinen Umständen respektieren darf. Man muss natürlich freundlich ihnen gegenüber treten, aber man muss ihnen seine Skepsis vorhalten. Das allein genügt meist schon, um sie aus der Fassung zu bringen.

Es gibt auch den einsamen, mittelalten Deutschen, graues Haar, hellbraune Hose, grünbraune Jacke mit Kapuze, eine Stofftasche umgehängt und einen Schirm in der Hand. Er lässt sich bei jedem Schritt ein wenig fallen. Er trägt eine Brille und ist immer bemüht, irgendwo hin zu starren, wahrscheinlich, weil er nicht mehr ganz so gut sieht, nicht mehr ganz so gut hört und generell die Dinge gern genau anschaut. Er hat irgendwas studiert, vielleicht Klavier, und er fährt gelegentlich nach Paris, weil er in Deutschland nichts Schönes mehr findet. Paris trägt die Schönheit seiner Jugend. Hier war er einmal mit seiner Frau, bevor sie ihn verlassen hat, oder er sie, weil er eine Affäre mit einer Studentin hatte. Ihn würde ich gerne auf den Pius-Bruder hetzen. Oder besser, ich wünschte mir, ihn neben jenem stehen zu haben, während dieser etwas seiner Meinung nach moralisch Fragwürdiges tut. Dann würde er sich empören, denn empören kann er sich gut und er tut es auch zurecht und eloquent. Und dann würden die beiden diskutieren. Sie sind etwa gleich alt und der Deutsche würde fließend französisch sprechen, natürlich mit einem sehr starken Akzent. Und er würde gestikulieren und sein ebenfalls braunes Hemd würde leicht auseinandergehen dabei.

Viele Pariser joggen, auch Ältere. Es hat Ihnen noch niemand gesagt, dass es vermutlich nichts Ungesünderes gibt, als in einer Großstadt zu joggen. Ganz gleich, ob man nun am Smog erstickt oder angefahren wird.

Die TikToker vor dem Pantheon sind auf ihre amateurhafte Weise hochprofessionell. Sie haben eine Kamerafrau, eine perfekte Diversität, eine, die parallel zur Kamerafrau die Choreografie macht und die Box hält und Anweisungen gibt. Die Touristen beobachten es von der Seite, filmen selbst und klatschen ein klein wenig. Sie sind davon genauso belustigt wie von Straßenmusikanten oder Hütchenspielern.

Unsere Zeit ist falsch, nicht nur weil sie keine Klassik ist, sondern auch weil sie keine Klassik mehr sein will. Wie soll man sonst zur Klassik gelangen, als indem man sie anstrebt? Haben sich Goethe und Schiller nicht um die Klassik der Griechen bemüht? Die Klassizisten sind oft gescheitert, aber gelegentlich ist ihnen doch auch was gelungen. Und wenn wir heute in den Cafés sitzen und die Stile durcheinander leiern, so ein bisschen Jugendstil und so ein bisschen Industriezeitalter und ein bisschen Romantik und ein bisschen Barock, dann zeigt das nur unsere Verlorenheit und nicht etwa unsere Souveränität.

Illustrierte, Zeitungen, Röhrenfernseher in Kunstausstellungen, selbst irgendwo ein Faxgerät und Briefmarken, alles findet irgendwo seine Nische und bleibt erhalten. Doch dies ist im Großen und Ganzen nur eine Illusion, denn die früheren Zeiten sahen ganz genauso aus und nicht alles bleibt erhalten. Die früheren Gesellschaften hatten genauso einen Synkretismus der unterschiedlichsten Medien, nur dass darin Medien enthalten waren, die wir längst verabschiedet haben und die langsam ausgetrocknet sind.

Auf dem Friedhof von Montparnasse sitzend und mich wundernd, dass mich der uferlose Tod um mich herum nicht angreift, wird mir klar, dass es einen Zustand geben kann, in dem einen gar nichts angreift. Und je nachdem, ob man diesen Zustand als sinnhaft erlebt oder nicht, nennt man ihn Erleuchtung oder eben Entfremdung. Wie kann es sein, dass es mich nicht anfasst, dass hunderte, ja tausende Tote hier um mich herum verscharrt sind? Und gleichsam muss man sich fragen, wie es sein kann, dass das sog. Wunder des Lebens, das in jedem Grashalm hier steckt und sonst auch überall einen ebenso nicht anfasst? Die Antwort ist offensichtlich: Das Angefasstwerden selbst hat seinen Zweck und wer keinen Zweck mehr hat (Zeitgenosse), der kann nicht angefasst werden. Der Zeitgenosse ist erst noch auf der Suche nach neuen Zwecken und geht daher an allem vorüber wie ein Unbeteiligter.

Während ich mich auf einer Bank ausstrecke, kommt ein Friedhofswärter zu mir und sagt, hier sind die Toten, haben sie ein bisschen Respekt vor Ihnen! Ich richte mich auf und sage, die Toten sind nicht hier, nur ein Lebender. Haben Sie doch ein bisschen Respekt vor dem!

Den Menschen können wir ja nur deswegen das Nichts nennen, weil an dieser Stelle, wo der Mensch sein soll, etwas vermutet worden war. Man muss ihn also das Vermutete nennen. Denn überall sonst ist das Nichts ja auch. Das Nichts an der Stelle des Menschen, es ist nur durch die Vermutung besonders.

Wie der Flügelschlag eines Falken sind die Wolken jetzt. Sie schlagen über das Land und verdecken die Sonne mit einem Mal. Und der Wind wird stärker und die Bäume rauschen. Und im nächsten Schlag ist die Sonne wieder da.

Ich beobachte, wie die Angehörigen von Jean-Paul Sartre als Einzige hier mit einem Auto vorfahren dürfen, um das Grab zu pflegen. Sie räumen die kleinen Mao-Bibeln von der Grabplatte und geraten in Streit mit vier Tiktokern in schwarzen Rollkragenpullis, die eine Choreographie zu einem Elektro-Swing-Remix von Avec le temps von Léo Ferré einstudieren.

Hier sind die Gemeinsamkeiten von Tourismus und Religion noch am ehesten zu spüren, wenn die Touristen zu den Gräbern berühmter Persönlichkeiten pilgern, ohne irgendeine Art von echter Verehrung für sie zu empfinden oder gar Transzendenz zu erwarten. Sie tun es einfach, weil man ja irgendetwas tun muss. Und das ist letztlich sehr verständlich. Denn wie wir alle sind sie Individuen, die sich nicht mehr minütlich darum kümmern müssen, Nahrungsmittel zu finden. Und die Transzendenz ist in ihrem Urgrund nichts anderes als die absolute Versorgung mit Nahrungsmitteln. Wenn sie sichergestellt ist, ist das Spiel zu Ende.

Zu Sartres Grab passt der französische Brauch, die Grabsteine berühmter Persönlichkeiten mit Lippenstift zu küssen, ganz besonders. Denn das hässliche Männlein hätte sich das sicherlich schon zu Lebzeiten gewünscht.

Dass die Moderne ein Fehler war, muss sich einem aufdrängen, wenn man zwei Tage lang in Saint-Martin war und von dort zum Louvre spaziert ist, zum Panthéon. Und wenn man dann zum ersten Mal ins Quartier Latin kommt und dort zum ersten Mal seit seinem Paris-Aufenthalt Gebäude sieht, die jünger sind als 80 Jahre. Diese Zweckbauten ohne Ornament stechen so unfassbar traurig aus der noch intakten Architektur des 19. Jahrhunderts heraus, dass einen fast der Schlag trifft. An anderen Gegenden, wo die Moderne normal ist, gewöhnt man sich schnell an diese Architektur. Hier in Paris kann man noch in dem Traum schwelgen, dass das 20. Jahrhundert niemals passiert ist. Das heißt natürlich nicht, dass man sich in billigen Wünschen nach Tradition und Vergangenheit ergehen darf. Aber es heißt, dass man die These ernst nehmen muss, dass wir wirklich falsch abgebogen sein könnten.

Durch ihre extreme Fixierung auf Paris, die natürlich absolut verständlich ist, haben sich die Franzosen selbst ein Bein gestellt. Wer nicht Pariser ist, das heißt, wer es nicht schafft, in Paris zu wohnen, der ist im Prinzip automatisch ein Versager. Für manche ist der Imperativ in Paris zu wohnen so stark, dass sie in die Pariser Außenbezirke ziehen, wo das Leben nicht lebenswert ist, nur um sagen zu können, dass sie Pariser sind. Aber viele gehen natürlich aus finanziellen Gründen nach Lyon oder Marseille, weil sie dort eine Arbeit finden, und müssen dann selbstverständlich ständig Urlaub in Paris machen. Während sie dann in Paris sind, müssen sie missmutig dreinschauen, weil sie die ganze Zeit daran erinnert werden, wie unglücklich sie sind, nicht hier wohnen zu können. Wenn sie dann aber nach Hause gehen zu ihren Freunden, sieht es ganz anders aus. Sie blühen auf und berichten von dem Wunderland Paris, in dem sie die beste Zeit ihres Lebens hatten, und das sie so bewundern. Sie kritisieren Paris natürlich auch ein wenig, so wie man seine Heimatstadt kritisiert, aber sie haben eigentlich kein Recht, Paris als ihre Heimatstadt zu kritisieren. Doch indem sie es trotzdem tun, eignen sie sich Paris ein wenig an. Und ihre Freunde, die auch in Saint Denis wohnen, wissen das natürlich, aber sie spielen das Spiel mit, weil sie in der nächsten Urlaubssaison genau das gleiche tun werden.

Eine 60-jährige kleine Französin in ganz normaler Kleidung legt sich auf die Stufen des Odeon-Theaters und tut so, als posiere sie für ein Foto. Sie raucht dabei und sieht aus wie ein Kind. Aber sie ist kein Kind mehr. Und es wirkt absurd, dass sie sich das erlaubt. Vielleicht ist sie Regisseurin oder Schauspielerin. Vielleicht ist es ein Theaterprojekt, bei dem die Schauspieler um das Theater herum verteilt werden, um NPC-Rollen zu spielen. Aber letztendlich ist es egal.

Die Apotheken haben grüne, kreuzförmige Neon-Leuchtschilder, in denen die Kreuzform hundertfach iteriert, variiert, abgewandelt und mit nützlichen Informationen wie dem Datum und der Temperatur garniert wird. So schafft das Kreuz eine Art Apotheken-Event, ein Gesundheits-Event, das man nicht verpassen will. Man wünscht sich förmlich krank zu sein, um in dieses trashige Wunderland der Heilung eintreten zu müssen und sich eine Aspirin zu besorgen.

Welch Verbrechen hast du nur begangen mit deiner Güte? Wie grausam warst du, als du ihm dieses Lächeln schenktest, in dem Glauben, etwas Gutes zu tun. Du weißt doch ganz genau, dass man so was nicht macht. Du hast die Gabe, abzuschätzen, wessen Blicke er sonst so bekommt. Würde man die Obdachlosen denn mit Kaviar beschenken? Wäre ihnen nicht ein gutes Brot, ein Burger viel lieber? Du aber wirfst Perlen vor die Säue und erwartest, dass sie daran nicht ersticken.

Die Franzosen fassen sich noch an. Ein junger Mann erkennt sprungartig eine Bekannte, die mit ihrem Freund unterwegs ist. Hält sie an der Schulter fest. Und die reagiert erst brüskiert, dann kann sie die Bekanntschaft nicht mehr leugnen und geht zu einem Gespräch über. Und auch ihr Freund schafft es, eine Miene der Freundlichkeit aufzusetzen. Sagt hallo auf Französisch und für einen Ausländer wie mich klingt schon das kultiviert.

Ein alter Mann mit braunen Sakko und Schiebermütze, der nach vorne gebeugt, energischen Schrittes geht, eine Brille trägt und ein bisschen aussieht wie ein französischer Naturforscher aus dem 19. Jahrhundert. Ein Sikh, der eine große Sackkarre schiebt und ohne Turban und Bart nicht als solcher zu erkennen gewesen wäre. Der Mann, der als Frau mit Hosenanzug angezogen ist und extrem missmutig dreinschaut, etwa 60 Jahre, schlecht geschminkt, der Lippenstift ganz falsch aufgetragen, man weicht ihm aus und weiß nicht, ob er aus Verrücktheit so aussieht oder weil er Trans ist, und man schämt sich gleich für den Gedanken.

Der Dyson trocknet meine Hände nicht, sondern er treibt nur die Feuchtigkeit unter den Hemdärmeln meine Arme hinauf.

Ein junger Franzose mit Goldlöckchen geht vor mir her, vielleicht ein Student, mit einer karierten hellen Hose und einem nettbraunen Mantel und einer Stofftasche mit einem kultivierten und gleichsam durchschnittlichen Gang. Weiß er, dass man heute so nicht mehr aussieht? Dass die 60er vorbei sind?

Ein gutaussehender, gepflegter Mann ist plötzlich hinter mir, während ich dies aufnehme. Als ich ihn bemerke, überquert er fast fluchtartig die Straße. Ich kann nicht sagen, ob er mich wirklich bestehlen wollte. Ich schaue ihm fassungslos hinterher, während er mit einer Menschenwoge emulgiert. War es vielleicht ein Cruiser, kommt mir der Gedanke. ich weiß gar nicht, warum. Andererseits gibt es immer irgendwelche Gründe, warum Menschen in deine Richtung schauen, warum sie hier auf etwas warten könnten. Es gibt hier einfach zu viel.

Diese beiden Texte hat die Spracherkennung nicht richtig erkannt und ich habe ihren ursprünglichen Sinn vergessen. Ich drucke sie aber dennoch ab:

[Hier seht ihr, dass die Menschen in der Kettenhaltung verschwunden sind. Sie verschwendet flächendeckend, indem Sie eine Lampe benutzen, um sich besser zu balancieren. Es sind nur noch wenige Haare vorhanden. Sie tragen eher schlicht dunkle Farben. Und sie daneben einen Mantel. Beide hat Gott nicht mit. Sie hat sich zum Ausmaß entstattet. Daher hat sie sich selbst zu schwer gegriffen und hat sich ihre Lippen aufschütteln lassen. Doch aus irgendeinem Grund ist es ganz schief gegangen. Und die Lippen stehen spitznapp und sind überhaupt nicht zum Fressen des Gesichts. Vielleicht kann man das als einen der wenigen Fälle hier wirklich nur mit noch mehr Schönheits-OPs berichtigen.

Sie hat letztlich alles getan, was man tun kann. Sie hat gute Schuhe, einen guten braunen Mantel. Ihre Tasche ist elegant. Ihre Stofftasche ist hip und einfach. Ihre Haare sind braun und tragen noch eine leichte Blondfärbung. Nur leider ist Ihre Nase ein wenig zu groß. Eine Muttermeldung ist ein wenig zu sichtbar. Sie wird grausam. Sie macht doch alles richtig.]

In den Großstädten der Welt stehen nun an jeder Ecke alte Männer mit einem Smartphone in der Hand, sind an die Wand gelehnt und folgen interessiert einem unbestimmten Flimmern. Manchmal haben sie Warnwesten an, manchmal Steppjacken, manchmal beides. Einer hat seine Brille auf die Glatze geschoben. Die linke Hand in der Bauchtasche, immer den Blick leicht nach unten ins Flimmern gesenkt. Was ist es, was Ihre Aufmerksamkeit so bannt, dass Sie Tag um Tag so verweilen? Sie bilden eine Garde der Einzelgänger. Die Warnweste haben Sie sich sicher nur im Laden gekauft und tun so, wenn beispielsweise die Müllabfuhr vorbeifährt, als hätten Sie die wichtige Aufgabe, den Verkehr zu regeln. Aber die Müllmänner scheinen Sie gar nicht wahrzunehmen. Sie machen Witze über Sie. In der Nähe von Kinderspielplätzen will man solche Typen nicht haben. Sie wechseln auch nie den Platz. Sie werden auch nie verscheucht. Sie betteln nicht. Welches geheime Versprechen geht von dem Leuchten aus? Ist es das Versprechen auf einem anderen Standplatz in einer besseren Gegend? Oder verspricht es einen Urlaub im Süden? Verspricht es Frauen? Sie sind nicht einsam. Denn sie bekommen Besuch. Die einzigen Momente, in denen Sie aufschauen, sind diejenigen, in welchen ein Bekannter vorbeikommt und mit Ihnen ein Pläuschchen hält. Sie gestikulieren dann aufgeregt und erörtern etwas, das man von Weitem nicht hören kann. In dieser Zeit ruht das Flimmern im Inneren der Steppjacke. Und sobald sich der Bekannte entfernt, vielleicht ist er ja selbst auf dem Weg zu seiner Ecke, wird das Smartphone wieder herausgezogen und entsperrt. Besonders in der Dunkelheit entfaltet es einen erstaunlichen Glanz. Dann ist nur noch ein Lichtkegel vorhanden, der von der gewölbten Bauchmitte sich ausbreitet und die Vorderseite des Gesichtes in eine schaurige Maske verwandelt.

Dann gibt es noch die pakistanischen Kurierfahrer, die auf ihrem Roller warten, mit einer ungefüllten Tasche auf dem Rücksitz. Sie parken vor einem Restaurant, vor dem Sie hoffen, dass es dasjenige sein wird, dessen Bestellung Sie austragen werden. Aber es findet keine Bestellung statt. Die Menschen sind heute satt. Auch hier ein Flimmern. Und die Möglichkeiten der Beschäftigung sind unendlich. Die Möglichkeiten, was es anzeigen könnte, sind unbegrenzt. Müssen sie auch sein, denn es wird heute keiner mehr bestellen. Gleichwohl muss der Fahrer in voller Montur und jederzeit zum Abfahrbereit dasitzen, schon alleine aus Gründen der Würde. Und jederzeit könnte die lebenswichtige Bestellung eingehen. Und wenn er sie verpasst, bekommt er eine schlechte Bewertung, was mit dem Karriereende gleichzusetzen ist.

Wenn die Menschen in die Scheibe starren, dann sind sie natürlich Zombies. Dieses Zombie-Dasein ist wie ein Stand-by-Modus. Sie sind dann nicht wirklich anwesend in einem starken Sinne. Sie können natürlich jederzeit zurückgerufen werden durch eine Verkehrssituation oder eine Anrufung. Wie immer, wenn die Moderne unsere magischen Vorstellungen realisiert, hat das nichts Magisches mehr. Es ist ganz pragmatisch und realistisch und vollzieht sich ohne jegliche Zaubereffekte und Beglückungen. Wie sollte es auch, wenn die Menschen leben müssen? Sie können ja nicht die ganze Zeit beglückt werden von ihrer Scheibe. Die Reisenden sind wirklich an einem anderen Ort. Sie verlagern einen Teil ihres Bewusstseins in eine andere Realität. Sie sind wie Schamanen, die in die Geistwelt fahren. Nur, dass die Geistwelt kein besonderes Ereignis darstellt, keine Erleuchtung bietet, sondern die absolute Normalität ist noch vor der alten, traditionellen, physischen Lebensrealität vor unserer Nase. Selbst die Geistwelt hat sich ausdifferenziert in unserer Zeit. Wir können in ihr alles Mögliche erledigen. Wir erledigen die Einkäufe, wir buchen Reisen und wir kommunizieren vor allem. Das hätten die Schamanen nicht gedacht. Letztlich ist der Flug in der Geistwelt nichts anderes als das Mind-Wandering, in dem wir uns ohnehin täglich zum Großteil der Zeit ergehen. Es ist nur eine weitere Verschachtelung dieser Seinsweise ins Virtuelle. Genauso wie der Zustand der Achtsamkeit uns aus dem Mind-Wandering herausholt, um uns für Gefahren in der physischen Welt zu wappnen, so können wir auch als Zombies die Augen wieder aufschlagen und unverzüglich zum Straßenverkehr zurückkehren. Die Kritik an den Zombies ist wie die Kritik an Hans-Guck-in-die-Luft. Sie hat eine lange Tradition und folgt stets einem ethischen Imperativ. Wobei sie eigentlich etwas unfair ist. Das ethische Ideal ist die ultimative Achtsamkeit, die niemand oder fast niemand erreichen kann und, so sagen es einige, auch überhaupt nicht wünschenswert ist. Die hiesige Realität, in der wir uns bewegen sollen, ist natürlich um vieles reicher; vor allem in kinesthetischen und olfaktorischen Dimensionen. Aber die Informationsdichte ist hier draußen einfach nicht so groß im Vergleich zu der unfassbaren Fülle, die in der Geistwelt erreichbar ist. Warum also nicht die meiste Zeit hier verbringen?

Ich habe den absoluten Pariser gefunden: mit hellbraunem Mantel, in anthraziter Hose, die deutlich über die Knie geht, mit schwarzen Lackschuhen, einem Hut, der perfekt zu dem leichten Mantel passt. Der rote Schal setzt den perfekten Kontrast. Er hat einen leichten Buckel. Er trägt natürlich ein Baguette und eine Zeitung in der Hand (warum auch nicht!) und sein Gesicht hat viel gesehen und ich bin froh, dass ich noch einmal, kurz bevor ich diese Stadt verlasse, den absoluten Pariser erblicken durfte.

Und dann betrete ich ihn, den kleinen Stadtgarten ohne Namen. Das Paradies, in dem alle Provenienzen nebeneinander in Einmütigkeit vereint sind. Es ist ein moderner Garten mit perfekt gemähtem Gras. Mit Schachtischen unter kleinen Arkaden, mit Narzissenbeeten und Schilf. Mit einzelnen Bäumen wie Zypressen und Flieder und anderen selteneren Baumarten. Es gibt eine kleine Fontäne. Und zu den Seiten hat man den Blick auf alle Architekturstile, die in dieser Stadt zu finden sind. Von der Klassik über verschiedene Stufen der Moderne und dazwischen das späte 19. Jahrhundert. Es sitzen hier viele Schwarze. Es gibt auch Kurierfahrer, die sich ausruhen. Und es gibt einen Trinkwasserspender. Der Klang der Straße, die gar nicht weit entfernt ist, ist absolut ausgelöscht. Es gibt Berberinnen und Araber und Weiße und Kinder und junge Mädchen und alte Frauen und alle liegen auf den Metallstühlen und sonnen sich. Es gibt keinen Hass in diesem Garten. Einer ist ultimativ photogen, ein etwa 50-jähriger schwarzer Mann mit einer Kofia, der aussieht, als wäre er der König dieses Jardins. Ich bin kurz davor ihn zu fragen, ob ich ihn fotografieren darf, aber dann finde ich das rassistisch und kann nicht begründen warum. Schade, oder? Während ich durch die Butterblumen streife und das Paradies wieder verlasse, fällt mir im letzten Blick auf, dass alle Menschen hier eines gemeinsam haben. Sie alle starren ausnahmslos in ihre Scheibe, die sie beleuchtet und die ihnen etwas zu bedenken gibt. Sie alle sind hypnotisiert von der Macht ihres Geräts und ich kann nicht beurteilen, ob dies alles zerstört oder alles erst ermöglicht.