Während ich so durch die Stadt gehe und die Leute beobachte, ihre Bewegungen beobachte und ihre Ästhetik, wird mir immer klarer, dass das Wichtigste ist, nicht wie ein Tourist auszusehen. All unsere Bemühungen sollten darauf hinauslaufen. Ich weiß, dass ich sehr davon beeinflusst bin, dass ich gerade selbst Tourist bin. Aber mir erschließt sich nicht, wie diese Wahrheit weniger eine Wahrheit sein soll, wenn ich die Stadt wieder verlasse. Nein, wir müssen wirklich alles daran setzen, wie ein Chamäleon die Spur des Touristischen abzulegen. Das Touristische an uns ist unser Akzent zu dem wir nicht stehen dürfen, wenn wir einen Kaffee bestellen, weil wir sonst übers Ohr gehauen werden. Zu Recht, die Einheimischen haben ein Recht, uns übers Ohr zu hauen, wenn wir unseren touristischen Akzent nicht verbergen können. Wir sind die Eindringlinge, die von ihrer Kultur leben. Gleichwohl wir sie finanzieren durch unser Eindringen, gleichwohl sie schon längst untergegangen wären ohne uns.

Eine französische Touristin trägt ein Bündel um ihre Schultern, das aus Plüsch ist und ein Blumenmuster hat. Bei näherem Hinsehen entpuppt es sich als ihre kleine Tochter, die vom Louvre in die Knie gezwungen worden ist und nun im Schlafwagen zurück ins Hotel reist.

Das Mädchen, vielleicht 16, ihr Haar hat einen leichten Rotstich, hat diese typischen Chucks in schwarz und einen dunkelblauen Mantel, Stangenware. Aber es steht ihr einfach, weil sie ihr mit ihrem selbstbewussten, aber nicht übertrieben selbstbewussten Blick nach vorne blickt und sich freut in Paris zu sein.

Die Touristen sind das Unheil, das diese Stadt am Leben erhält. Sie sind das, was man sich weg wünscht, und ohne das diese Stadt verloren wäre. Sie würde zerfallen, nach wenigen Jahren schon. Nichts könnte man mehr bezahlen. Gleichzeitig würde niemand mehr etwas anschauen. Und wenn eine Kathedrale abbrennt und keiner sieht es, gibt es dann ein Feuer?

Man hat eine Tribüne aufgebaut, damit sich die Touristen vor Notre Dame setzen können und die Geschundene während ihres Wiederaufbaus wenigstens ein bisschen in Ruhe beobachten können. Findige Musiker nutzen das und platzieren sich vor der Tribüne. Und die Touristen spielen mit und freuen sich, weil sie ohnehin nicht wissen, weswegen sie eigentlich hier sind.

Das Pärchen: er hat irgendwann in der Linie arabische Einflüsse, ansonsten ist er weißer fränkischer Franzose, hat eine Glatze, arbeitet bei der französischen Telekom und sie ist etwas bleicher, gallischer, hat rote Haare und eine gerötete Nase und man kann nicht sagen ob es vom Trinken kommt oder von einem Schnupfen.

Überhaupt habe ich den Eindruck, dass es die Touristen irritiert, wenn man sich nicht absolut konform verhält, wenn man nicht absolut den Weg der Masse geht. Sie schauen einen irritiert an und verstehen nicht, warum man am Rande stehen bleibt und etwas anscheinend Sinnhaftes tut. Für sie gibt es nur den Weg zur nächsten Sehenswürdigkeit.

Ich sitze in einer portugiesischen Patisserie, was ich erst merke, nachdem ich es google, weil ich bemerkt habe, dass das Croissant nicht französisch schmeckt. Und dann kommen natürlich die Deutschen herein. Fünf Frauen, kulturell beflissen, wie man sagt, Freundinnen der Kultur, von denen eine halbwegs auf französisch bestellen kann. Sie kennen die Gebäcke und können einander erklären, worum es sich handelt. Dann setzen sie sich und erkennen die Musik. Es ist I Say A Little Prayer von Aretha Franklin. Und sie wissen auch, dass in ihrem Lieblingsfilm eine Cover-Version davon gesungen wird, und nicht das Original. Und die Cover-Version sei auch schön, was ich bezweifle, aber ich sitze ja nur hier und ich shazame das Lied, das ich zwar auch kannte, aber nicht benennen konnte. Und ich wusste vor ihnen, dass es I Say A Little Prayer ist von Aretha Franklin, in der Original-Version. Und das Einzige, was mich davon abhält, zu erkennen, dass ich genauso ein blöder Tourist bin wie sie, ist, dass ich meine Identität nicht preisgebe. Noch wissen sie wahrscheinlich nicht, dass ich Deutscher bin. Aber das wird sich ändern in dem Moment, da ich mit starkem Akzent Päjeh Silwupleh sage und alle hören, dass ich kein Französisch kann.

Als Tourist bist du wie Teil eines Fischschwarms. Dein Schutz vor den Taschendieben besteht darin, dass ihr viele seid und dass es niemals so viele Taschendiebe geben wird wie Touristen. (Warum eigentlich?) Das ist jedenfalls dein einziger Schutz. Hinter jeder Ecke stehen sie und sind wie die Löwen auf der Pirsch. Wie die Löwen gehen sie zuweilen mitten durch die Menschen. Ohne Tarnung, ganz offen, zeigen sie was sie wollen. Und nur weil keiner weiß, wie man sie los wird und auch nicht den Mut hat etwas zu tun, bleiben sie unbehelligt.

Die elegante Latina mit ihrem teuren Mantel macht Bilder von den Sehenswürdigkeiten und trägt einen leicht genervten Zug um die Lippen, der Ungeduld gegenüber ihrem Mann erkennen lässt. Sie hat es nicht geschafft einen Reichen Gutaussehenden zu bekommen, sondern nur einen Reichen. Und das macht sie fürs Leben unglücklich. Sie weiß nicht, dass sie noch unglücklicher wäre mit einem Gutaussehenden, der die ganze Zeit fremd ginge.

Das Beobachten ist keine leichte Angelegenheit. Man muss die Menschen anschauen, um beobachten zu können, und darf andererseits niemals zu lange hinschauen. Wer zu lange hinschaut, riskiert nicht nur einen Kommentar oder gar einen Angriff (ich bin paranoid), er riskiert auch, dass das Bild zerfällt. Er riskiert seinen schönen Stereotyp. Er riskiert, dass das Fantasiegebilde, das er beobachtet hat, zusammenbricht. Und dann muss er von vorne anfangen. Nur, dann wird er ein zweites Mal hinschauen und wird wieder das Bild verlieren können. Und dies wird sich, wenn er nicht aufpasst, immer wieder und wieder wiederholen. Und am Ende kommt er bei dem raus, was er ohnehin schon weiß.

Viele Frauen zwischen 50 und 70 tragen jetzt goldschimmernde Jacken. Sie wissen nicht, dass das etwas ist, was man eigentlich nur als Statement benutzen darf. Und so normalisieren sie diese Besonderheit ohne Not, alle machen also immer Statements ohne Not, genauso wie sie es vor 10 Jahren mit Leopardenmuster gemacht haben. Und die Subversion wird Konformität. Wir haben eine Normalisierung der Karens. Sie begegnen uns überall und jede von ihnen könnte jederzeit den Manager verlangen.

Man entwickelt Methoden, mit denen man die Einheimischen von den Touristen unterscheiden kann. Es bleiben zwei Klassen von Menschen. Wobei man nicht sagen kann, welches die übergeordnete Klasse ist. Für die Einheimischen spricht ihre Ortskenntnis und die Selbstverständlichkeit, mit der sie hier wohnen. Und für die Touristen spricht ihr Reichtum. Aber der Reichtum in der Stadt Paris zu wohnen, der Reichtum in einer Stadt zu wohnen, in die alle fahren wollen, übertrifft dies doch, oder nicht? Die Unterscheidung ist auch nicht durch die Sprache möglich, denn die Hälfte der Touristen sind Franzosen und ich kann den Lyon-Akzent nicht vom Bretagne-Akzent unterscheiden.

Die drei Filipinos sehen aus wie eine Boyband. Aber könnte heutzutage nicht jeder Teil einer Boyband sein?

Die Latina mit einem viel zu kurzen Rock, Lederjacke, die ihre Zunge in die Backe drückt, zumindest sieht es so aus. Dann bemerke ich, dass die Wölbung nicht mehr verschwindet und lerne, dass dies ihre natürliche Gesichtsform ist.

Die Dummdreistigkeit der Touristen hat auch mit ihrer Gruppennatur zu tun. Die Aushandlung von Entscheidungen in Gruppenprozessen ist ineffektiv und funktioniert über Schwellenwerte. Sie stehen irgendwo herum, beraten halbherzig, was sie als nächstes tun wollen, wie sie verfahren wollen, da sie hier keinen Platz bekommen, weil sie zu viele sind, und schauen sich dabei einfältig an. Selten übernimmt einer die Initiative. Langsam kulminiert das Anschwellen einer Neigung und die Gruppe setzt sich schwerfällig in Bewegung. Dabei sehen sie immer etwas gestriegelt aus und tragen eine Ästhetik hinein, der nicht zum Ort passt.

Es gibt auch diejenigen, die schon Paris-Experten sind, die Touristen erster Klasse, die mit offenem Mund leicht genervt gar nicht fassen können, dass man ihnen im Weg steht. Gleichwohl haben sie keine Argumente, warum man sie bevorzugt behandeln sollte, unterscheiden sie sich von den anderen Touristen doch nur durch ihr geringfügig besseres Wissen von der Stadt, durch ein paar Erlebnisse aus früheren Aufenthalten, und die akkumulierten Zug- und Flugkosten, die sie fein säuberlich zu Hause in einem extra angelegten Ordner dokumentieren.

Es gibt unterschiedliche Strategien seine touristische Natur zu verleugnen. Die erste Strategie wäre, schneller zu gehen als üblich, sodass man sich von den Touristenmassen abhebt und aussieht wie einer, der etwas zu erledigen hat. Dabei sollte man aber nie hektisch wirken, als wolle man noch seine Bahn erreichen oder seine Guided Tour nicht verpassen. Man kann auch langsamer gehen, schlendern. Dann allerdings muss man sehr darauf achten, niemals mit Kopfbewegungen zu den Sehenswürdigkeiten aufzufallen, sondern wenn man sie sehen will, muss man mit Augenbewegungen seitlich hinschielen und hoffen, dass man dann genug sieht. Hier kann auch eine Sonnenbrille hilfreich sein. Bestimmte Accessoires sind aber in jedem Fall zu vermeiden. So zum Beispiel bedruckte Taschen oder alles, was man sich noch vor Ort provisorisch kaufen würde. Zu viel und zu große Rucksäcke, Regenjacken vor allem, sind verboten. Man darf weder begeistert wirken, noch darf man missmutig aussehen, wie einer, der erschöpft und enttäuscht vom Angebot ist. Wenn man fröhlich sein will, muss man authentisch und leichtfertig froh sein und wenn man missmutig sein will, dann muss man eine zielsichere Bosheit ins Gesicht legen. Niemals sollte man, wenn man auf sein Smartphone schauen muss, so aussehen, als würde man einen Weg ergoogeln. Am lustvollsten ist es, solche Bürgerdarsteller zu entlarven, ihre Methoden und Maschen zu erkennen und freizulegen, wie sie ihr Touristendasein unfreiwillig preisgeben, weil sie das Regelbuch des Inkognito nicht beherrschen.

Und dann gibt es noch die Schönheit, die nur durch ihr Make-up gehalten wird. Sie ist beeindruckend, alles an ihr perfekt. Doch sie trägt es wie eine Maske, und die Maske ist flüchtig. Sie weiß, wie viel Arbeit sie heute Morgen hineingesteckt hat in ihre Begehrlichkeit. Sie hat es für diesen Tag gemacht, und sie hat es sich verdient. Und durch das Glück, das sie heute erfährt, kann sie zeitweise vergessen, dass sie das Make-up heute Abend ablegen muss.

Und die Allerschlimmsten sind die Europäer, die mit pinken Baskenmützen nach Paris kommen. Die Französinnen dürfen das natürlich, und die Pariser dürfen das sowieso. Aber eine Italienerin oder eine Deutsche, die sich eine Baskenmütze anmaßt, ist nicht viel anders als ein Japaner, der mit Dirndl aufs Oktoberfest geht. Nur ist das Oktoberfest in seiner Selbstbeschreibung eine Kostümparty, und Paris ist das nicht.