„Ein Gespenst geht um im st…“
„….Stellung einzunehmen, Zeugnis abzulegen über das vergangene Jahrhundert ist nicht Aufgabe dieses ….“
„Das erste mal begegnete mir Stephan Pfalzgraf in einem Mannheimer Café, es muss im Juni 2016 gewesen sein. Ich hatte gerade meine Pfroffesur für Erfolgs…“
„Gewiss ist…“
„Dieses Buch soll Zeugnis ablegen über die Gewaltsamkeit der Kreativität, die einen wahren Künstler überfallen kann. Shiva! Gott der Zerstörung! Weltvernichter! Deinen Tanz, Sechsarmiger, Schwertschwinger, g…“

Diese Chronik hat ihren Anfang in der Erkenntnis eines Künstlers, dass er nicht zum Romancier tauge. Edward Snowden hat diesen Mann einmal „Formatkünstler“ genannt: Einer, bei dem die Idee Vater des Gedankens ist. Er spielt keine langen Spiele. Er erschafft, schnell, zackig, gibt alles ab, schreitet weiter. Dies ist sein Wesen und nichts Anderes gelingt ihm. Er kann nicht ewig brüten über komplexen Charaktergeflechten und dergleichen. Subtilität im Ausdruck ist ihm ein Graus. Darf er deswegen kein Künstler sein? Nur wenn er ein adäquates Ausdrucksmittel findet. Und wir glauben, er ist in dieser Chronik diesem seiner Natur entsprechenden Ausdrucksmittel letztendlich einen großen Schritt nähergekommen. War sein Debüt „Abenteuer“ noch von der Bemühung um eine stringente Linie geprägt, die letztlich der narraitven Kraft der kurzen Texte entegegenstand, ist diese Chronik nun der Versuch, einen Schritt zur Seite zu gehen und einfach Vehikel zu sein. Wahrlich, man spürt dennoch welch Aufwand in die Konstruktion dieser Metafiktion gegangen ist, doch letztendlich dient sie nur als Aufhängung für die vielen kleinen Szenen, die Splitter, Fragmente, die dem pfalzgrafschen Ideenindustriekomplex entspringen. Erstaunlich ist hier nun, dass ein Künstler auch heute noch, nachdem die Postmoderne ja bekanntlich lange abgelöst ist, eine durchweg postmoderne Form wählt. Das heißt konkret: In Abgrenzung zur Avantgarde sind hier durchaus Ästhetik, ja Schönheit, Humor, Trivialität mit Kunstanspruch und die Abwendung von bloßem Konzept erlaubt. Doch der Werkcharakter, wie er sich bei post-postmodernen Werken bereits wieder findet, scheint noch nicht zur Gänze wiedergefunden zu sein. Was könnte der Gehalt einer Chronik sein, die als bloße Wäscheleine für Ideen herhalten muss? Sicher, die Überwindung der Postmoderne ist nicht einfach, und den preisgünstigen Weg in die politische Kunst oder gar den Rückschritt in die Romantik hätte sich ein Idealist wie Pfalzgraf nie verziehen. Erstaunlich bleibt die Entscheidung, dem Vorwurf der Eitelkeit zu entgehen, indem man sich selbst (oder einen gleichnamigen Helden, der im übrigen wenig Charaktermerkmale des Künstlers aufweist) zum Protagonisten macht. Diese Flucht nach vorne scheint ncht ganz schlüssig, gleichwohl es eine nachvollziehbare Strategie ist, lieber den eigenen Namen lächerlich zu machen als eine Figur zu erfinden, die dann ganz offensichtliche Weisheiten des Autors ausplaudert. Denn zimperlich verfährt diese Chronik mit der Figur des Stephan Pfalzgraf nicht gerade. Man ist zuweilen brüskiert von der Selbstgewissheit, Frechheit, Arroganz dieser unsympathischen Figur, und fragt sich, weswegen man einfach nicht aufhören kann, ihren nächsten Erguss, sprich den nächsten Text, zu lesen.

Ob die Strategie verfängt, mag also dahingestellt sein; eins ist klar: Nachgerade lächerlich mutet neben dem Pfalzgraf, dessen Leben diese Chronik hier beschreibt nur der Pfalzgraf an, der diese Chronik geschrieben hat; der uns glauben machen will, dass er an der eigenen Unfähigkeit ein Buch zu schreiben oder wahlweise dem Tod einer Geliebten oder auch irgendwelcher fiktiver Weltgeschehen wahnsinnig geworden sei. Heute im Jahr 2026, drei Jahre nach Pfalzgrafs Tod, wissen wir zu viel über dessen krude Veröffentlichungsstrategie, als dass wir dem „Phänomen“ glauben schenken könnten. Pfalzgraf hat bekanntlich viele verschiedene Varianten dieser Weltchronik angelegt, und notariell verfügt, dass im Jahr 2076, also im Jahr des Todes der Romanfigur Pfalzgraf, diejenige Version veröffentlicht werden solle, die der Wirklichkeit am nächsten gekommen sei. Diese Regelungen hatte er noch vor seinem frühen Tod getroffen, nicht aber damit gerechnet, dass noch im selben Jahr sein Notar die Informationen veröffentlichen sollte, da das Werk des durch seinen spektakulären Tod plötzlich berühmt gewordenen Pfalzgraf erwartungsgemäß nur in einem kurzen Zeitfenster danach sich gut verkaufen würde. Dies wäre genau so eingetreten, hätte nicht ein unbekannter Akteuer eine Vielzahl der Versionen der Chronik geleakt und damit das kolportagehafte Vorhaben zunichte gemacht. Zum heutigen Tage liegen mindestens 67 authentische und etwa 134 zugeschriebene Versionen vor und sind in den Tiefen des Deep Web einsehbar. So ist also doppelt nichts geworden aus dem Coup: Weder hat er späten Nachruhm erlangt, noch hat jemand anders einen kurzfristigen Reibach mit seinem Werk machen können.

Die vorliegende Version der Chronik haben wir weder aus qualitativen Gründen noch aus solchen der Authentizität ausgewählt. Es war schlichtweg die einizige, die man aufgrund der Richtlinien des Verlages guten Gewissens hat veröffentlichen können. Wie vielleicht auch wegen seines grotesken Todes bekannt ist, hat Pfalzgraf nicht gerade ein gutes Händchen für sensible Themen gehabt. Und eine Auswahl schien uns, da wir die Veröffentlichung nun als erster Verlag ermöglichen wollen, ethischer als eine Beschneidung des Materials. Die erstellung einer historisch-kritischen Ausgabe obliegt dann den Nachfolgenden Generationen.

Der Aufbau der Chronik (und aller anderen Iterationen) ist wie folgt: vom Jahr 1989 an, dem Geburtsjahr sowohl des Autors als auch des Protagonisten (beide „Stephan Pfalzgraf“), als auch der Autorenfiktion des Protagonisten (Stephane Comte Palatin) bis ins Jahr 2023 sind die aufgeführten Ereignisse mehr oder weniger an denen der realen Weltgeschichte angeleht. Verkomplizert wird dies, so viel sei verraten, dass die Lebensgeschichte außer dem Geburtsdatum nur in wenigen Einzelheiten denen des Autors entspricht, sondern denen Martin Heideggers, der im Jahr 1898 (wie auch Wittgenstein, Hitler, Chaplin und Cocteau, welche alle eine gewisse Rolle in der Chronik spielen) geboren ist. Diese Palimpsest-Anlage mit dem widersprüchlichen Charakter Heideggers erlaubt dem Autor nun allerlei ironische Parallelführungen, Anleihen und so manche Narretei. Die Wahl Heideggers als Ahnvater kann man, wenn man dessen Biografie und widersprüchliches Prestige kennt, nicht missverstehen: Denn einerseits gilt Heidegger vielen neben Wittgenstein als der größte Philosoph des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, mindestens als ein großer originärer Denker, und damit würde sich selbst ein Philosophiekenner lächerlich machen. Andererseits hat Heideggers Persönlichkeit selbst etwas unfreiwillig Komisches: von der vermeintlich bäuerlichen Lebensweise auf der Todtnauberger Hütte über die drollig-romantisierende Sprache seiner Philosophie bis zum Anspruch, zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts ernsthaft noch das ganze SEIN erklären zu wollen.

Sehr wichtig ist auch Heideggers hochkomplexe Beziehung zum Nationalsozialismus für Pfalzgrafs Vorhaben. Denn wie bereits erwähnt, reicht die Chronik bis ins Jahr 2076. Und die zugrundeliegenden Bezugspunkte für die zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht eingetretenen Jahre 2024- 2076 hat Pfalzgraf keineswegs aus der Futurologie, sondern aus der Zeitgeschichte gewonnen. Will heißen: Er hat auf ein Palimpsest des Zwanzigsten Jahrhunderts sein Einundzwanzigstes angelegt. Mit dem Jahr 2024 also lesen wir ausschließlich Ereignisse, die Spiegelungen des Jahres 1924 sind. Dies führt im Rückblick zu mancher Einsicht, wenn man bemerkt, dass diese beiden Jahrhunderte in manchem ohnehin schon verbunden sind, wie zum Beiispiel das Jahr 1914 und 2014. Wer jedoch ein zwanzigstes Jahrhundert seinem einundzwanzigsten zugrunde legt, kommt, gerade als Deutscher, nicht an dessen apokalytpischen Klimax vorbei. Und genau darum ist die Heidegger-Figur so behände ausgewählt: Pfalzgraf vermeidet hiermit die peinliche Idee, sich selbst in die Haut eines Widerstandskämpfers zu stecken. Die zunächst fragwürdig scheinende Idee, dem zweiten Weltkrieg eine „Große Party“ und die ambivalente Machtergreifung der künstlichen Intelligenz entgegenzusetzen, ist auf den zweiten Blick Ausweis einer Perspektive, die, neben der Anerkennung der Singularität des Holocaust, Optimismus und Pessimismus transzendiert: Alles ist absolut folgenlos. Nur die Moral bleibt uns unauslöschlich auf den Fersen. So kann sich der „Heidegger-Pfalzgraf“ für seinen Dataismus rechtfertigen, von dem auch wir noch nicht wissen, welches Gesicht er uns offenbaren wird. Wird er uns alle auslöschen? Und wenn ja: vielleicht zu recht?

Um Plot und Welthistorie dieser Version kurz zu skizzieren: Die zwanziger Jahre sind geprägt von einer Autokratisierung Amerikas, die sich ja in unserer Zeit bereits abzeichnete. Pfalzgraf nutzt hier vor allem Ereignisse in der Geschichte der Sowjetunion. Die neue Weltmacht analog zum Amerika des zwanzigsten Jahrhunders spielt hier erwartungsgemäß China. Die Rolle Nazideutschlands, wenn auch in einer deutlich differenzierteren Form, spielt eine von Elon Musk entwickelte AGI (übermenschliche künstliche Intelligenz), die dieser nach seiner Wahl zum Weltpräsidenten installiert (im doppelten Wortsinne). der Zweite Weltkrieg entspricht einer sogenannten „Großen Party“, bei der die Bewertung anscheinend dem Leser überlassen bleiben soll. Die Nachkriegsjahre sind dann von einer extremen Regionalisierung gekennzeichnet. Die Klimakrise wird in diesem Szenario durch technischen Fortschritt gelöst, wodurch sich Pfalzgraf in dieser Version als wirtschaftsliberaler zu entpuppen scheint (wenn man nicht weiß, dass in anderen Versionen der Chronik die ganze Bandbreite von Klimafolgen ausbuchstabiert wird). Auch hier ist der Text auf kritische Reflexion des Lesers angewiesen.

Pfalzgrafs Einbindung in diesen historischen Kontext entspricht in etwa derjenigen Heideggers ins zwanzigste Jahrhundert, mit dem einfachen Unterschied, dass ihm nicht der selbe Erfolg vergönnt ist. Weder kann er mit seinem Großprojekt „Pein und Leid“ einen Durchbruch Schaffen, der Heideggers „Sein und Zeit“ entspricht (auf derartige Kalauer sollte sich der Leser einstellen), noch findet er eine anständige Anstellung bei einer Institution. Heideggers komplizierte Geschichte der Kollaboration findet auch in Pfalzgrafs Haltung zum Transhumanismus (der Mensch muss durch KI überwunden werden) und Dataismus (Datenverarbeitung durch KI ist der Schlüssel zu einer perfekten Gesellschaft). Und nach dem Krieg steht sehr lange sein Versuch nach Rehabilitierung als früherer Anhänger der nun verpönten Ideologien. Begleitet und Illustriert wird dies alles durch die Beziehung zur Philosophin Greta Thunberg, und in einem geringeren Maße zu Prof. Edward Snowden, die beide zunächst eine kollegiales Verhältnis mit ihm pflegen (mit Thunberg hat P. sogar eine Affäre), sich dann von ihm ab- und in den Nach-Party-Jahren ihm zögerlich wieder zuwenden.

Rätselhaft bleibt das kurze Verhältnis zu Sarah Urban, die 2023 an Krebs stirbt, und in Allusionen immer wieder in den späteren Texten auftaucht. Hierfür finden sich in Heideggers Leben keinerlei Anhaltspunkte. Daher bleibt diese Chiffre ein seltsamer Fremdkörper in der Chronik.

Es ist verständlich, dass der Autor mit dem zunehmenden Wahnsinn seines Helden, seiner Abgehobenheit, eine Entsprechung von Form und Inhalt schaffen will: Er ist im Prinzip lediglich in der Lage, kleine Szenen auszuspucken, Gags, Ideen, denen jeglicher Formzusammenhang abgeht. Wenn jedoch diese Formlosigkeit zur Form erhoben wird, diese einzige Stärke des Autors über das Transzendieren der Form ausgespielt wird: Ist dann nicht eigentlich alles geglückt?

Heidelberg, Prof. Dr. Franz P. Apfelgasth