Kafkas Urteil als die wohl wichtigste Erzählung des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt uns keineswegs etwas über Kafka, noch über seinen Vater und schon gar nicht etwas über Georg Bendemann. Es gibt keinen menschlichen Protagonisten in diesem Stück. Nicht einmal der Freund als fernes Petersburger Phantasma, ausgestattet mit den Exotismen der äußersten Stadt Europas, ist die Hauptfigur – führt uns jedoch auf die richtige Fährte. Es ist gerade die Suche nach dieser Hauptfigur und das Nicht-Finden einer solchen in der Gestalt des sich wandelnden, mit Ängsten und Hoffnungen, sich ändernden Zuweisungen der Freundschaft und Komplizenschaft mit dem Vater, welche uns darauf bringt, dass das tragende Element hier einzig etwas ist, für das ich den Begriff „poetische Strukturkraft“ einführen möchte. In ihr liegt die Spätmodernität Kafkas begründet: gerade weil es eben keinen Protagonisten gibt, keine wirklichen Beziehungen zwischen den Personen, keine Gewissheiten – ist dieses Werk spätmodern. Es gibt nur noch die „poetische Strukturkraft“ als die Einheit aller Kräfte, seien es Handlung, Figurenbeziehungen oder Sprachgewalt (die Festlegung einer fest definierten Anzahl solcher Einzelfaktoren birgt eine gewisse Unfasslichkeit) welche übrig bleibt, um den Leser hinter sich herzuziehen. Jeder Text muss freilich ein gewisses Maß dieser Kraft aufbringen, um den Leser bei der Stange zu halten, gleich einem Liebhaber, welcher sich immer neue Komplimente ausdenkt, einer Geliebten, welche durch immer neue Finten ihren geschätzten Wert erhöht, gleich einer Sinfonie, welche durch ihre Konstruktion die Aufmerksamkeit des Hörers bannen will. In den Epochenstilen vor der klassischen Moderne (in dieser Sprechweise: die Stile des frühen 20. Jhds) gibt es noch feste traditionelle Strukturprinzipien und Liturgien, wie diese poetische Strukturkraft erzeugt werden soll; ja es gibt sogar eine Art Autorität der ehrwürdigen Form: Wenn die Sonatenform handwerklich gut beherrscht ist, wenn der Romanaufbau und die Figurenkonstellation kenntnisreich auf den tradierten Formen basiert, trägt die Autorität der kunstvollen Beherrschung dieser Mittel den Leser über ein Werk, selbst wenn die tatsächliche poetische Strukturkraft nicht angemessen hoch ist. Mit dem zwanzigsten Jahrhundert geht bekanntlich dieser Omphalos, jener durch kulturelle Autoritäten gesetzte Nabel der Welt, verloren; was bleibt, ist die formlose Kakophonie der Wirkungen. Hier erscheinen die Fratzen des Expressionismus, in welchen man einen Kafka eingebettet sehen darf. Kafka nun nimmt nicht die Einzelelemente auseinander, wie es Joyce tut, der jedem Element in „Ulysses“ ein ganzes Kapitel widmet, sondern er lässt alles ineinanderfließen. Das Schlüsselwort mag hier der unpräzise, aber notwendige Begriff der Intuition sein: gleich einem Maler setzt Kafka Pinseltupfer, Farbnuancen, Kontraste, und spielt uns vor, uns eine Geschichte zu erzählen. Was er in Wirklichkeit tut, ist, uns einzutauchen in den Strom der poetischen Kräfte. Selbstverständlich liegt hierin nicht einfach nur, wie es dem Laien vielleicht scheinen möchte, ein Aufgeben der alten Restriktionen, sondern es ergeben sich neue, ungeheure Anforderungen an den Künstler, und sei es nur die Verkleidung dieser völlig neuen Kunst ins Gewand der alten: der Leser soll glauben, er lese eine Erzählung. In Wahrheit taucht er im Erzählen selbst.